Der seltsame Geruch der Synkope
Der Titel ist ein Verdikt von Frank Zappa und bezog sich auf die »zahlreichen Versuche, den Jazz totzureden«. Der Wiener Komponist Franz Koglmann und der Schweizer Musikkritiker Peter Rüedi fragen heute wieder, ob diese Musik »als lebendiges Phänomen das Jahrhundert überleben wird, das sie geboren hat. — Siehe die FORVM-Diskussion der beiden mit Peter Niklas Wilson und Bert Noglik in den vier Heften 473 bis 481.
Th. M. ist Journalist, Pressereferent und Berater der Wiener Kulturstadträtin Ursula Pasterk. Er hielt diesen Vortrag im Rahmen einer Veranstaltung Modern Times Lebensziele und Inszenierungen der »Zukunftswerkstätte« (soll auch als Buch erscheinen), wo er extemporierend meinte, »die zahlreichen Versuche, den Jazz totzureden«‚ haben »nicht gefruchtet, weil der Jazz auf die eine oder andere Weise immer weiterlebt«. Der Beitrag, obwohl nicht dafür konzipiert, berührt also unsere Debatte über die Tesen von Koglmann.
Ohne Jazz geht heutzutage gar nichts mehr. Schon bald jeder dritte Werbespot zeigt eine attraktive Blondine auf der Kühlerhaube eines attraktiven Fahrzeuges, die emphatisch ein Saxophon schwenkt. Und im Hintergrund zischt, vom Hubschrauber-Kamera-Auge perfekt eingefangen, die Skyline von Manhattan vorbei. Mindestens. Wenn nicht gar die Rocky Mountains oder gleich der Weltraum.
Jazz, so lernen wir also, ist blond und eine Frau. Und er erzählt von jenen Lebenszonen, wo die Eiswürfel in den Martini-Gläsern klunkern, wo das Licht und die Stimmen gedämpft sind, und wo die Verführung gleich um die Ecke wohnt.
Aber Jazz kann noch viel mehr: Er macht als Inschrift auf Parfumflakons von sich reden und drückt dem Produkt damit die Aura coolen Hipstertums auf, er trägt als Romantitel dazu bei, daß eine Autorin den Nobelpreis erhält, und er schmuggelt sich klammheimlich in die Oper und setzt einen saftigen Kontrapunkt zum Stimmenfetischismus althergebrachter Prägung.
Natürlich ist der Jazz, von dem wir hier reden, nicht der ganze Jazz, ja nicht einmal der halbe. Es handelt sich dabei vielmehr um eine Vorstellung von Jazz, die Leute entwickeln, die mit Jazz eigentlich nichts zu tun haben wollen.
Der Werbefuzzi ist sich ja im Innersten seiner Seele der Fuzzihaftigkeit meist voll bewußt. Er weiß, daß sein profaner Job darin besteht, neue Produkte in den Kreislauf der ökonomischen Zirkulation einzuschleusen oder alte Produkte durch Implementation geiler Reize erotisch aufzuladen.
Dieses eher öde Geschäft erhält durch den Auftritt des Jazz plötzlich das Aroma von Lebenslust und Lebenskunst. Das den schlichten Bedürfnissen des Bürgertums auf den Leib geschneiderte Produkt bebt und zittert unter dem »Jungle Fever«, legt seine Pret-a-Porter-Attitüde ab und präsentiert sich als Haute Couture feinsinnigster Geschmacksveredelung.
Der Demiurg, der solches bewirken konnte, der PR-Mann also, profitiert natürlich von der Umwertung, die er soeben vorgenommen hat. Er ist nun nicht mehr der Handlanger eines schwitzenden Fabrikanten, dem der Jazz ungefähr so viel bedeutet wie Schönberg oder Finnegan’s Wake, nämlich gar nichts, sondern ein subversiver Werbe-Künstler, der die terms of trade um ein Quentchen Sophistications bereichert hat.
Das Phänomen der attraktiven Aufwertung der Werbung dauert nun schon mindestens seit den frühen achtziger Jahren an. Es bedient sich natürlich nicht nur des Jazz, sondern auch aller anderen Künste, die die Moderne geprägt haben, also beispielsweise des strukturellen Films, der abstrakten Malerei und der konkreten Lyrik. Die größte Leistung des Werbetreibenden besteht darin, das Produkt, um das es geht, gar nicht mehr zu zeigen oder zu benennen, sondern mit den Mitteln moderner Kunst, die für diesen Zweck effektvoll abgeflacht werden, eine Aura zu erzielen, die sich dem Produkt perfekt anschmiegt und somit die PR-Wirkung garantiert.
Der Werbe-Jazz ist also weder neu noch originell, sondern einfach ein Phänomen, das seit geraumer Zeit mit dem, was man sich Zeitgeist zu nennen angewöhnt hat, korreliert. Wenn man sich das Schicksal der parallel dazu entstandenen Zeitgeistzeitschriften vergegenwärtigt, besteht große Hoffnung, daß auch die Saxophone dereinst in den Kofferräumen jener Autos verschwinden, die sie mit großem Riff-Getöse unters Volk bringen wollen. Jetzt stellt sich die logische Anschlußfrage: Wenn der Werbejazz nicht der Jazz ist, wo ist dann der wirkliche Jazz? Jener Jazz, der für seine Fans die Kriterien großer Kunst erfüllt? Der einen Klangraum der Utopie aufspannt und eine Transzendierung einer unzulänglichen Alltagsexistenz möglich erscheinen läßt?
Die Frage stell` ich wohl, allein mir fehlt die definitive Antwort. Denn der Jazz befindet sich, so wie beinahe alle anderen zeitgenössischen Künste in einer Phase der fundamentalen Verunsicherung und Instabilität.
Der Schleifpunkt des Jazz, der Ort, wo der Motor der Avantgarde zu wirken beginnt und für eine kontinuierliche Vorwärtsdrift sorgt, läßt sich nicht mehr bestimmen. Das hat mit einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung zu tun, die ich hier nicht mit wenigen Worten darstellen kann. Nur soviel: Die gesamten Künste der sogenannten Moderne gehorchten einem linearen Entwicklungsprinzip, das eng an die Idee vom wissenschaftlich-technischen Fortschritt gekoppelt war.
Die logische Deduktion und die experimentelle Versuchsanordnung schienen jene Verläßlichkeit zu garantieren, die auch im ästhetischen Bereich zukunftsorientierte Resultate liefern konnte. Und so, wie auf die Eroberung der Lüfte durch Düsen-Jets mit zwingender Konsequenz die Raumfahrt folgen mußte, so mußte der Nachfolger Charlie Parkers Ornette Coleman sein. Denn es ging ja um die Entelechie, um die im Projekt der Moderne liegende Kraft, die seine Entwicklung und Vollendung bedingt. Die Logik des Linearen bringt es mit sich, daß in der ungebremsten Vorwärtsbewegung die Option auf qualitative Veränderung geborgen scheint. Einfacher gesagt: Wenn man immer auf derselben Straße entlangfährt, dann wird durch diese schiere Bewegung ein anderer ontologischer Zustand, eine andere Seins- und Bewußtseinslage erreicht. Das ist die Essenz des »On the Road«, wie sie von Jack Kerouac kanonisch formuliert wurde; und wie sie ein anderer Beat-Autor, John Holmes, in einem Text über die Odyssee eines Tenorsaxophonspielers zum Ausdruck brachte. Er beschrieb diese Reise symbolisch überhöht und ins Allgemeine gewendet als »den Treck des Amerikaners durch Einöden. Überall lauert die Gefahr: Polizei, Unbesonnenheiten, Wildnis, geistige Verarmung. Und voraus liegt was? Ein verzauberter Moment des Gelingens, irgendeine undefinierbare Phrase, eine Note oder ein Ton, der es genau trifft! — Alles, was er weiß, ist, daß etwas in ihm spricht, und die Mechanismen der Prophezeihung ihm gehorchen.«
John Holmes spricht in diesem Zusammenhang auch von dem »Kirilowschen Moment des Eintauchens in das Es«. Wobei es sich bei Kirilow um eine Romanfigur von Dostojewskij handelt, die bereit ist, ihr Leben für einen einzigen sinnvollen Augenblick zu opfern.
In den sechziger Jahren schien dieser Kirilowsche Moment ganz nahe zu sein: Der wissenschaftlich-technische Fortschritt war in seine dynamischste Phase getreten. Der restaurative gesellschaftliche Ist-Zustand wurde festgeschrieben, um die Entwicklung nicht zu behindern. Das forderte mit dialektischer Logik Gegenentwürfe heraus, die heute als 68er Studenten-Revolte, Gegenkultur, Woodstock-Nation und so weiter bekannt sind.
Im wesentlichen hatten diese Bewegungen den Abbau gesellschaftlicher Repression und jeder Form von organisatorischer und administrativer Struktur im Sinne. Sie arbeiteten heftig an der herrschaftsfreien Kommunikation egalitärer Subjekte, wie sie von Habermas als Wunschbild formuliert wurde.
Auch in der Kunst und dabei vor allem im Jazz schlug sich der Geist der Epoche nieder: Der Free Jazz war ja in seiner idealtypischen Form der Versuch, maximale Freiheit durch den minimalen Einsatz von Gliederungselementen zu erreichen. Hier wurde der Wunsch der progressivsten Kräfte der Gesellschaft nach substantieller Änderung der Lebensverhältnisse am nachhaltigsten in diesem Jahrhundert formuliert.
Doch gerade im radikalen Abbau der sogenannten Dispositive der Macht, worunter man im Musikbereich auch die Vorschriften des Notenblattes verstehen kann, offenbarte sich ein fundamentaler Irrtum, von dem sich Gesellschaft und Kunst bis zum heutigen Tag nicht erholt haben: Der Irrtum, daß das Fehlen von Struktur mit Freiheit gleichzusetzen wäre.
Im Free Jazz stellte sich schnell heraus, daß das herrschaftsfreie Kommunizieren mit Instrumenten ohne Head Arrangements, Blues-Schemata oder Standard-Harmonien zu einer ziemlich unaufregenden Homogenität der Klanggestalten führte. Was da, jenseits von Taylor, Coleman und Coltrane im fortgeschrittenen Kaputtspielbereich geboten wurde, bewegte sich zwischen den Polen: solistische Entäußerung versus entfesseltes Kollektiv, nutzte extreme dynamische Unterschiede oder knüpfte wie die Musiker von AACM an die Klangfarbenmelodien Schönbergs an.
Viele der Möglichkeiten des Free Jazz waren schon beim ersten Auftritt festgeschrieben und nicht weiter entwicklungsfähig. So ist die Formel Solo gegen Kollektiv nie überzeugender ausgearbeitet worden, als auf der zum Kanon der Meisterwerke zählenden Platte »Ascension« von John Coltrane.
Zieht man dann noch den Bogen zur parallel entstandenen zeitgenössischen Musik, wie es ja auch zahlreiche Fee Jazz-Musiker getan haben, und vergleicht man die beiden einander wechselseitig in Frage stellenden Klangschöpfungssysteme serielle Musik und Aleatorik, so kommt man zu einer erstaunlichen Einsicht, die György Ligeti bereits 1958 folgendermaßen formuliert hat: »Das total Determinierte wird dem total Indeterminierten gleich.«
Gesellschaftlich gesprochen hieße dies, daß die scheinbar befreiten rebellischen Abbruchkommandos informelle Hierarchien produzieren, die letztendlich dieselbe Wirkung erzielen wie jene Apparate, die man ineffektiv machen und durch Besseres ersetzen wollte.
Diesen ganzen Komplex von Hoffnung und Enttäuschung, von ästhetischen Fortschritten und dramatischen Rückschlägen muß man sich vor Augen halten, wenn man über den Jazz der fortgeschrittenen Postmoderne und somit über die Gegenwart sprechen will.
Seit den sechziger und siebziger Jahren, dem Höhepunkt der totalen Improvisation, ist das Projekt des Jazz grundlegend neu formuliert worden. Es geht jetzt nicht mehr um den Abbau von Strukturen, der letztendlich zu einer unbezwingbaren monolithischen Superstruktur führt, sondern um das Auffinden neuer Gestaltungsschemata, die man benutzen oder dekonstruieren kann, die man affirmiert oder denen man sich verweigert. Aber, das ist das Entscheidende, sie müssen als »point of reference« vorhanden sein.
Natürlich muß man an dieser Stelle kurz erwähnen, daß es den strukturierten Jazz zu allen Zeiten gegeben hat. Man nennt dies die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und meint damit das Fortleben etwa von Traditional Jazz und Hard Bop unter den Rahmenbedingungen der Kakophonie und des Bruitismus. Es handelte sich dabei allerdings um Jazzformen, die keinerlei Avantgarde-Anspruch stellten, also nicht über das Bekannte und Bestehende hinausgehen wollten.
Das Charakteristische am Gegenwarts-Jazz ist jedoch, daß er, im Rückgriff auf traditionelle Werte, in der alternativen Bewertung herkömmlicher Valeurs das eigentlich Neue formulieren möchte. Das Neue kann somit, wie im Falle des Marsalis-Clans, auch das ganz Alte sein. Das Neue ist also nicht mehr an die Entwicklung des Materials gebunden, wie es Adorno gern gehabt hätte, sondern eher an gesellschaftliche und ästhetische Kontexte. Letztendlich entscheiden Auf- und Abwertungen von Journalisten, Insidern und anderen Opinion Leaders, die sich schließlich als Mehrheitsmeinung durchsetzen, darüber, was als neu und was als alt zu betrachten ist.
Der herkömmliche Begriff der Entelechie ist damit zumindest höchst fragwürdig geworden.
Es geht nicht mehr um das Material, das mit immanenter Logik zur Entfaltung drängt, sondern um Akzidentielles, um aufgesetzte Interpretationen in Zeiten genereller Verunsicherung.
Der Rückgriff auf die Tradition ist in solchen Situationen meist die erste Wahl, denn er garantiert solide Erdung und Verankerung in einem Zusammenhang, dessen einzelne Spielelemente überschaubar sind. Darum konnte man auch allenthalben begeisterte Zustimmung vernehmen, als im Gefolge von Wynton Marsalis eine Garde junger Jazzer mit ernstem Blick und teuren Anzügen die Konzertpodien der Welt betrat, um das alte Lied von Horace Silver und Art Blakey noch einmal zu singen.
Im Idealfall, also bei Wynton Marsalis selbst oder gelegentlich bei Roy Hargrove, wird da ein Sinnzusammenhang gestiftet, der durch die zeitliche Verschiebung von rund 40 Jahren völlig neue Beleuchtungen alter Klänge ermöglicht und darüberhinaus das Weiterspinnen von Traditionsfäden gestattet, die irgendwann im Trubel der einander jagenden Avantgarden verlorengegangen sind.
Das ergibt dann, wie im Falle von »Citi Movement« von Wynton Marsalis seltsame Klanggespinste, die bei aller deftigen Verankerung in Blues und Big Band-Sound entrückt und epigrammatisch wirken. Wie ferne Echos aus einer Zeit, die ihrerseits wieder nur als mythologisches Konstrukt aus Filmen, Romanen und Gemälden existiert.
Traumprotokolle, mehrfache Brechungen der Ästhetik, kleine Erkenntnisblitze aus dem Unbewußten — das ist eine geistig akkurate Art, mit dem Erbe der schwarzen Musik Glasperlenspielereien zu veranstalten.
Doch machen wir uns nichts vor: Wynton Marsalis ist ein Einzelfall, ein schillernder Solitär, der, und das ist die weniger angenehme Seite daran, längst begonnen hat, die Jazzgeschichte in seinem Sinn umzuschreiben.
Im Schulterschluß mit dem Theoretiker Stanley Crouch wird da alles weggeblendet, was nicht in eine lupenreine und äußerst dogmatische Sicht von der Genealogie des wahren, guten und schönen Jazz hineinpaßt.
Wenn Stanley Crouch polemisiert, dann hört sich das so an: »Albert Ayler schrieb seine schlichten Melodien, weil er gar nicht in der Lage gewesen wäre, konventionelles Jazzmaterial zu spielen. Miles Davis hat seit dem Ende der sechziger Jahre den Jazz an den Popmarkt verraten. Er wurde zum Kollaborateur, zum Waldheim des Jazz — bis zum bitteren Ende. Und Leute wie Lester Bowie sind allzu lang damit durchgekommen, sich ihre Gesichter anzumalen, sich zu kostümieren, sich einen neuen Haarschnitt zuzulegen und von Afrika zu schwätzen.«
Dieses Plädoyer für einen metalliséfarben lackierten Superjazz mit Doppelvergaser und eingebautem Antiblockiersystem, der alles ausmerzen möchte, was nicht wie Wynton Marsalis & Co. klingt, ist natürlich ein starkes Stück und erinnert frappant an die Zeiten, als man Thelonius Monk mit den Worten runterputzte, er könne ja gar nicht Klavier spielen.
Aber es gehört eben zu den Erkennungsmerkmalen der Gegenwart, daß die Argumentation umso polemischer wird, je dünner die Evidenz ist. Und deshalb glaubt jeder, das Neue im Jazz sei ausgerechnet dort zu finden, wohin er sein Begehren lenkt.
Der eine ist immer noch der Meinung, Hip Hop sei der Be Bop von heute, der nächste schwört Stein und Bein auf Derek Bailey und Misha Mengelberg. Der hängt weiterhin ungebrochen der New Yorker Schule von John Zorn und Elliot Sharp an, während ein allerletzter glaubt, aus den Yellowjackets mehr als nur Schall und Rauch herausklopfen zu können. Und auf gewisse Weise haben sie alle recht, denn, um mit einem Wort des von mir sehr geschätzen Kulturtheoretikers Boris Groys zu schließen:
Das Neue ist unausweichlich, unvermeidlich, unverzichtbar. Die Forderung nach Innovation ist die einzige Realität, die in der Kultur zum Ausdruck gebracht wird. Das Streben nach dem Neuen um des Neuen willen ist ein Gesetz, das auch in der Postmoderne gilt, nachdem alle Hoffnungen auf eine neue Offenbarung von Verborgenem und auf einen zielgerichteten Prozeß verabschiedet worden sind.
