Streifzüge, Heft 34
Juni
2005
Rückkopplungen

Der Rock ist ein Gebrauchswert

„Der Rock ist ein Gebrauchswert, der ein besonderes Bedürfnis befriedigt. Um ihn hervorzubringen, bedarf es einer bestimmten Art produktiver Tätigkeit. Sie ist bestimmt durch ihren Zweck, Operationsweise, Gegenstand, Mittel und Resultat.“ Diese, freilich das Kleidungsstück bezeichnende Formulierung aus dem , Kapital‘ (MEW 23, S. 56) hat Helmut Salzinger gleich mehrmals in seinem Buch ,Rock Power‘ zitiert. Der vor wenigen Jahren zu früh gestorbene Salzinger war der erste Poptheoretiker – nicht nur als Kritiker der Popkultur, sondern als Kritiker, der es ohne modische Allüren verstand, Theorie selbst als Pop fortzusetzen; , Rock Power oder Wie musikalisch ist die Revolution? ‚ ist ein Essay, eine Fragmentsammlung nach der Benjaminschen Kunst, ohne Anführungszeichen zu zitieren. Salzinger hat so etwas wie das ,Passagen-Werk‘ für die Rockmusik geschrieben und für die Popkultur fortgeführt, was Benjamin für die Massenkultur des 19. Jahrhunderts unternommen hatte: „Marx stellt den Kausalzusammenhang zwischen Wirtschaft und Kultur dar. Hier kommt es auf den Ausdruckszusammenhang an. Nicht die wirtschaftliche Entstehung der Kultur, sondern der Ausdruck der Wirtschaft in ihrer Kultur ist darzustellen.“ (,Das Passagen-Werk‘, S. 573f. ) So verfährt Salzinger mit dem Wesen der Rockmusik der Sechziger und frühen Siebziger. Auch hier gilt, nach Hegel, dass das Wesen erscheint: der musikalische Ausdruck des Rock ist der Gestus der Authentizität. Im selben Jahrzehnt der Restauration, in dem die postfaschistische bürgerliche Kultur in die Innerlichkeit und gefühlige Echtheit flieht – Adorno kritisierte diese deutsche Ideologie im ,Jargon der Eigentlichkeit‘ (1964) -, konstituiert sich die Massenkultur ebenfalls auf dem ideologischen Boden des echten Gefühls, der seelischen Expression, des Authentischen und Unmittelbaren: Rockkultur ist ehrlich, die Musik handgemacht und moderner Ausdruck eines affektiven Antimodernismus. Rock wollte sich gegen den Pop behaupten, gegen die Musik aus der Konserve, gegen das Synthetische, gegen Plastik, gegen die Maschine. Und dafür verwendete Rockmusik die Maschine, die Effektgeräte, die Synthesizer, den Kunststoff und natürlich die Logik des Kapitals. Aus dieser Dialektik hat sich die progressive Rockmusik entwickelt, in dieser Dialektik hat die Rockmusik ihre Ideologie des Authentischen gesprengt und aufgehoben, aber mit dieser Dialektik ist die Rockmusik schließlich auch gescheitert und zugrunde gegangen.

Salzinger war kein Wertkritiker, hat aber mit seinem assoziativ gewendeten Marxzitat herausgestellt, inwiefern auch der Gebrauchswert eben Wert ist, auch die Rockmusik der Selbstverwertung des Werts, der Wertvergesellschaftung unterliegt. Das Marxzitat ist eine Spur zwischen Notizen zu Jimi Hendrix: 1969 widmet Hendrix sein Stück ,Machine Gun‘ den militanten Oppositionellen. „Ein Rock-Star, der ein Revolutionär ist, spielt für Rock-Fans, die Revolutionäre sind.“ Und ein Jahr später kündigt er dasselbe Stück mit denselben Worten beim Festival auf der Isle of Wight an, einstudiert und nur scheinbar spontan. Salzinger: „Das revolutionäre Engagement ist Teil der Bühnenshow.“ Hendrix Tod drei Wochen später löste „einen neuen Hendrix-Boom aus“.

Berühmt wurde Hendrix, weil er als Linkshänder eine normale Rechtshändergitarre spielte, weil er mit der Zunge spielte oder hinter seinem Rücken, weil er seine Gitarre anzündete, zerstörte, die Verzerrung des Klangs bis zum Äußersten trieb. Er hat einen Stil entwickelt: als Grenzüberschreitung, jenseits von Blues, Rock ’n‘ Roll, Soul, Funk, Jazz, Rock. Hendrix war ein Pop-Star, ein Anti-Star. Kompositorisch sind die Stücke von Hendrix fast trivial, einfach. Die Virtuosität besteht im Umgang mit dem Klangmaterial; Ausdruck ist die Weise, wie der Klang geformt ist. Hendrix hat als einer der ersten mit dem Sound der E-Gitarre gearbeitet, hat die Töne mit Wah-Wah-Pedal und Fuzz-Box verfremdet, und so mit musikalischen Mitteln jene Entfremdung zum Ausdruck gebracht, die zur Signatur der damaligen Generation wurde. Er hat die Entfremdung gegen das Authentische ausgespielt. Die Dialektik der Rockmusik besteht nämlich genau darin: Einerseits die Entfremdung als Teil der Ideologie des Authentischen zu begreifen, andererseits das Authentische eben als Ideologie der entfremdeten Verhältnisse zu entlarven.

Die Rockmusik nach Hendrix‘ Tod setzte diese Dialektik fort. Der Materialfortschritt in der Regression, die musikalische Regression als politischer Fortschritt kennzeichnen die merkwürdige Rock-Avantgarde der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Sofern gerade die Rockkultur von einem ambivalenten Geist der Romantik geprägt war, gilt hier, was Hegel einhundertfünfzig Jahre zuvor für die romantische Kunst konstatierte: ihr Ende. Darüber hinaus verstand er in seiner Ästhetik die Musik als romantische Kunst schlechthin, sofern sie die prädestinierte Kunst ist, die Zugang zur subjektiven Innerlichkeit bietet. In der spätkapitalistischen Phase wird die Diagnose Hegels politisch bestätigt. Das Authentische der Rockmusik verflüchtigt sich nach Hendrix im Gestus des Könner- und Kennertums: Bluesrock, Hardrock, Heavyrock, Jazzrock, Artrock, Bombastrock, Klassikrock, Synthierock, Discorock, Countryrock, Boogierock, Folkrock, Prog-Rock sind bloß ästhetische Varianten desselben ökonomischen Prinzips. Die Virtuosität im Umgang mit dem Material verwandelt sich in die Virtuosität reiner Beherrschung des Instruments, so dass der Rock schließlich keinen Gebrauchswert mehr hat, der ein besonderes Bedürfnis befriedigt, sondern nur seine eigene ästhetische Ideologie ist, sich selbt verwertenden Wert.
Nachsatz

In der Rowohlt-Ausgabe von Salzingers ,Rock Power‘ findet sich, wie damals üblich, eine Werbeseite der „Pfandbrief und Kommunalobligationen“, bemüht, zum Thema des Buchs zu passen: „,Die Musik macht reich‘ … Ein Satz von Franz Schubert. Sollte nicht heißen: Noten schaffen Banknoten her. Galt eher für jenen Reichtum, der im Reiche der Musen zählt. Und trotzdem: Zu den Noten, die unser Leben bereichern, zählen nun mal auch die Banknoten.“ (Zwischen S. 142 und 143).

Helmut Salzinger, „Rock Power oder Wie musikalisch ist die Revolution?“, Reinbek bei Hamburg 1982.

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