FORVM, No. 257/258
Mai
1975

Den letzten beißen die Hunde

Internationale Arbeitsteilung und Arbeiterimmigration

Im Nachwort zu meinem Buch „Politische Ökonomie der Gastarbeiterfrage“ schrieb ich, dem Kapitalismus sei es gelungen, mit Hilfe der Gastarbeiter eine tiefe Krise zu vermeiden. Die Gastarbeiter ermöglichten die riesige Akkumulation, die in den sechziger Jahren stattfand und von großem technologischem Fortschritt begleitet war. Auf lange Sicht sind diesem Prozeß jedoch Grenzen gesetzt, da die Überakkumulation Probleme der Umweltverschmutzung, der Bevölkerungsdichte und der Infrastruktur hervorruft, kurz, Probleme in jenem Bereich, der heute mit dem Modewort „Lebensqualität“ bezeichnet wird.

Im Nachwort zu meinem Buch „Politische Ökonomie der Gastarbeiterfrage“ schrieb ich, dem Kapitalismus sei es gelungen, mit Hilfe der Gastarbeiter eine tiefe Krise zu vermeiden. Die Gastarbeiter ermöglichten die riesige Akkumulation, die in den sechziger Jahren stattfand und von großem technologischem Fortschritt begleitet war. Auf lange Sicht sind diesem Prozeß jedoch Grenzen gesetzt, da die Überakkumulation Probleme der Umweltverschmutzung, der Bevölkerungsdichte und der Infrastruktur hervorruft, kurz, Probleme in jenem Bereich, der heute mit dem Modewort „Lebensqualität“ bezeichnet wird.

Verflogener Optimismus

Der Kapitalismus hat drei Möglichkeiten, diese Probleme zu lösen: Begrenzung und Kontrolle des Wachstums, Kapitalexport und die Einführung von Planungsmethoden. Ich zog 1972 den Schluß, der westeuropäische Kapitalismus werde in der nächsten Phase versuchen, die Beschäftigung von Gastarbeitern mit Kapitalexport zu kombinieren, später jedoch werde die Anwendung von Planungsmethoden unerläßlich werden.

Damals waren wir alle, glaube ich, optimistisch. In den Vorausberechnungen der OECD oder des deutschen Wirtschaftsministeriums wurde ein fast lineares Wachstum der Nachfrage nach Arbeitskräften bis 1985 angenommen. Die Erfahrungen mit der Rezession von 1967/68 erschienen damals recht ermutigend. Nachdem die Wirtschaft sich erholt hatte, erreichte die Zahl der Gastarbeiter neue Höhen. Das deutsche Arbeitsministerium schätzte, daß in der Bundesrepublik 1985 zwei bis drei Millionen Gastarbeiter beschäftigt sein würden, bei Annahme einer jährlichen Wachstumsrate von null bis zwei Prozent. Gewiß, es war den Ökonomen bekannt, daß im Weltmaßstab Veränderungen im Sinn einer neuen Arbeitsteilung im Gange sind, zu denen auch gewisse Industrialisierungsprozesse in den Entwicklungsländern gehören. Aber wir alle glaubten, dieser Prozeß würde mehr oder minder reibungslos verlaufen. Erst mit dem Schock der sogenannten Erdölkrise im November 1973 intensivierten sich diese strukturellen Prozesse im kapitalistischen Weltsystem und wurden akut.

Wir alle wußten schon 1970, daß die Automobilproduktion sich auf die Entwicklungsländer zu verlagern beginnt. Das gleiche gilt für die Eisen- und Stahlindustrie und für viele sogenannte arbeitsintensive Wirtschaftszweige wie Textilien, Schuhe und Elektromechanik. Doch dieser Prozeß braucht Zeit. Infolge der Erhöhung der Erdölpreise und damit der Benzinpreise kam die Autoindustrie fast zum Stillstand. Die sogenannte Strukturkrise war von einer gewöhnlichen zyklischen Rezession begleitet. Es war recht interessant: obwohl seit der Währungskrise (Dollarkrise) von 1968 ein weltweiter Inflationsprozeß im Gang war, kam es zugleich zu einem solchen Wirtschaftswachstum und zu solchen Investitionsraten, daß die Nachfrage nach Arbeitskräften noch stärker zunahm. Die Zahl der Gastarbeiter stieg bis September 1973 unablässig an, obgleich schon im Frühling jenes Jahres gewisse Anzeichen eines Konjunkturrückgangs erkennbar waren. Es war daher ganz natürlich, eine Rezession und eine Zunahme der Arbeitslosigkeit zu erwarten. Man glaubte jedoch, es würde eine Rezession von der gewohnten Art sein, und die Wirtschaft würde sich nach einiger Zeit wieder erholen.

Dann aber kam im November 1973 das Ölembargo, und das ganze Bild änderte sich. Nun wurde offenkundig, daß die Strukturkrise unvermeidbar war und daß sie mit der erwarteten Rezession zusammenfallen und diese verstärken würde. Es bestand die Gefahr, daß die Rezession sich zu einer richtigen Krise auswachsen würde, und dies ist nun auch tatsächlich geschehen. Unter diesen Umständen haben die Regierungen der westeuropäischen Länder eine nach der anderen einen Gastarbeiterstopp verhängt.

Interessanterweise versuchen manche Regierungen diese Entscheidung mit der Erklärung zu rechtfertigen, die Sperre werde die soziale Integration der Gastarbeiter erleichtern, da nun mehr Geld dafür bereitgestellt werden könnte. Dies gilt für die bundesdeutsche und auch für die französische Regierung. Ich brauche wohl nicht zu betonen, daß inzwischen nichts zur Lösung dieses Problems getan wurde. Aber die in der Erklärung der deutschen Bundesregierung genannten Gründe enthüllen die wahren Ursachen des Gastarbeiterstopps, die schon vor dem Erdölembargo im November 1973 gegeben waren. Die sogenannte Ölkrise war nur ein willkommener Vorwand, eine Lösung durchzusetzen, an die man schon früher gedacht hatte, vor deren Ausführung man jedoch zurückgeschreckt war, weil man soziale und politische Rückwirkungen sowohl im eigenen Land als auch in den auswärtigen Beziehungen befürchtete.

Streiken Gastarbeiter als erste?

Es gab bereits zwei Probleme, die eine solche Lösung „wünschenswert“ machten: erstens das Problem der Infrastruktur, das heißt der Druck der wachsenden Anzahl von Gastarbeitern auf die inadäquate Infrastruktur; zweitens die Politisierung der Gastarbeiter in ganz Westeuropa, die am deutlichsten in den Mai-Demonstrationen und beim Renault-Streik in Frankreich wie auch bei den Streiks im Ruhrgebiet sichtbar wurde. Diese letztgenannten Streiks gaben den Anstoß zu einem größeren Ausstand, an dem auch die deutschen Arbeiter teilnahmen. Diese Streiks waren insofern ein Meilenstein in der Gastarbeiterbewegung, als sie von Frauen initiiert wurden. Zum erstenmal streikten ausländische Arbeiter aus eigenem Antrieb, und zwar um andere Forderungen als Lohnerhöhungen. Die Regierungen fürchteten, diese Politisierung würde gefährliche soziale Spannungen verursachen. Und wenn die Gastarbeiter einmal anfingen zu streiken und sich zu organisieren, würden sie natürlich weitergehen und Rechte fordern, die das System ihnen nicht geben wollte. Damit würde das Diskriminierungssystem, das die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Gastarbeiter regiert, ins Wanken geraten. Jemand hat es so formuliert: die sozialen und politischen Nachteile der Gastarbeiterbeschäftigung begannen deren bisherige ökonomische Vorteile zu überwiegen. Das Ölembargo kam daher als Deus ex machina und ermöglichte eine Lösung, die längst fällig gewesen war.

Ich habe das Diskriminierungssystem erwähnt, unter dem die Gastarbeiter leben und arbeiten. Die Rezession verursachte Arbeitslosigkeit; das hatte man erwartet, doch hatte man gehofft, es vermeiden zu Können. Eine der Folgen ist die Verstärkung der Diskriminierung, die sich darin zeigt, daß bei den Gastarbeitern die Arbeitslosenrate beträchtlich höher ist als bei den einheimischen Arbeitern. Im Dezember 1974 waren 5,4 Prozent der Gastarbeiter in der Bundesrepublik beschäftigungslos, während die allgemeine Arbeitslosenrate nur vier Prozent betrug. Von September 1973 bis September 1974 sank die Zahl der Gastarbeiter um 9,4 Prozent (jüngste Statistik). Die Pufferfunktion der ausländischen Arbeiter wird also wieder wirksam.

Diesmal aber, infolge des Wesens und des Ausmaßes der Rezession und des Verhaltens der beschäftigungslosen Gastarbeiter, die nicht nach Hause fahren wollen, weil sie fürchten, nicht wiederkommen zu können, bewährt sich die Pufferfunktion nicht so gut wie in der Rezession von 1967. Deswegen werden Zwangsmaßnahmen angewandt: Aufenthaltsbewilligungen werden nicht verlängert, ganze Städte oder Stadtteile werden für voll besetzt erklärt, was bedeutet, daß Gastarbeiter dort nicht hinziehen dürfen, eine Neuregelung der Kinderbeihilifen wurde eingeführt, Familienangehörigen wird der Zuzug verwehrt (der jüngste Einfall der deutschen Bundesregierung), streikende Gastarbeiter wurden ausgewiesen, bei freien Stellen werden Deutsche bevorzugt usw.

Nicht nur in Deutschland, auch in allen anderen Ländern ist nach dem Gastarbeiterstopp der Repressionsmechanismus in Aktion getreten. In Frankreich gab die Polizei bekannt, daß Afrikaner nur begrenzte Aufenthaltserlaubnis erhalten (Le Monde, 17. Jänner 1975). Arabische Arbeiter, die in den Hungerstreik getreten waren, wurden trotz der Proteste ihrer Organisationen ausgewiesen (drei Tunesier am 27. Jänner, sechs Marokkaner am 3. Februar).

Es ist jedoch klar, daß dieses unter den gegebenen Umständen grausame und unmenschliche Vorgehen nicht spontan oder willkürlich ist. Es stützt sich auf bestehende Gesetze und Verordnungen. Vor der Ölkrise wurden diese Gesetze ignoriert, weil Hochkonjunktur herrschte. Jetzt werden sie angewandt, weil die Arbeitslosigkeit zunimmt und die Gastarbeiter politisch aktiv werden. Die Diskriminierung ist nicht nur eine Augenblickslaune, nicht nur ein irrationaler Affekt, sondern ein institutionalisierter Mechanismus, eingebaut in die Fremden- und Einwanderungsgesetze jedes Landes wie auch in die Vereinbarungen zwischen den Ursprungs- und den Wirtsländern der Gastarbeiter. Die Diskriminierung der Gastarbeiter erstreckt sich auf die Vorschriften über Aufenthaltsbewilligung und Familienzusammenführung, auf die Wohnverhältnisse und auf den Arbeitsplatz, wo der Ausländer die unangenehmsten, schlechtestbezahlten Arbeiten verrichten muß, und gipfelt in der politischen Kastration durch die ständige Drohung mit der Ausweisung. Sie zeigt sich auch im Schulsystem, in der Beschränkung der Ausbildungsmöglichkeiten, in der Entstehung von Gastarbeitergettos in den Städten und ganz allgemein im alltäglichen Leben.

Integration, Assimilation

Die Integration der Gastarbeiter ist in jüngster Zeit zu einem vieldiskutierten Thema geworden. Man unterscheidet sehr subtil zwischen Integration und Assimilation, zwischen absorptiver und konstruktiver Integration usw. Nichtsdestoweniger werden gewisse grundlegende Elemente der Integration hartnäckig ignoriert. Vor allem die Gefühle und Haltungen der Gastarbeiter selbst; man fragt sie nicht, ob und wie sie integriert werden wollen. Zweitens die bestehenden Gesetze, die den Ausländer zu einem Status der Unsicherheit und Ungewißheit verurteilen und damit seine Integration verhindern. Drittens ist man nicht bereit, die Mittel bereitzustellen, die für die Integration notwendig wären. Viertens spricht man von Integrierung in die Sozialsphäre, während den Gastarbeitern fundamentale Rechte verweigert werden. Eine Minderheit, der man ihre politischen Rechte vorenthält, kann nicht integriert werden. So wird die Integration mystifiziert, ein Fetisch.

Die Diskussion über die Integration erweist sich als bloßer Vorwand für die Verschiebung von Lösungen, mit dem Resultat, daß die herrschenden Umstände weiterbestehen. Das Äußerste, das man erwarten kann, ist nicht die Integrierung der Minderheit als solcher, sondern die Assimilierung einzelner Gastarbeiter, die die Fähigkeit und die Möglichkeit dazu besitzen.

Meiner Meinung nach kann man unter den gegebenen Umständen überhaupt nicht von Integration sprechen, da die Wirtsländer noch keine Entscheidung über die Wachstumsziele getroffen haben und vielleicht in nächster Zeit eine solche Entscheidung auch gar nicht treffen können. Von dieser Entscheidung hängt jedoch die Beschäftigung der Gastarbeiter ab. Das ist die harte Wahrheit. Diese Länder sind bereit, so viele Ausländer aufzunehmen, wie für die Erreichung ihrer Wachstumsziele notwendig sind. Das heißt, es wird nur so viel Integration zugelassen, wie sich mit dieser Grundbedingung verträgt. Grundsätzlich müssen die Gastarbeiter abschiebbar sein; sie dienen als Reservearmee im Prozeß der Kapitalsakkumulation. Dies ist das kapitalistische Gesetz.

Ich sehe vier Grundvoraussetzungen, welche die Integration ermöglichen würden, indem sie die Grausamkeit des Akkumulationsgesetzes brechen, das die ganze Wanderbewegung der Arbeiter beherrscht:

Erstens müßten die Gastarbeiter als Subjekte und Teilnehmer an der Diskussion über die Integration akzeptiert werden;
zweitens müssen sie sich gewerkschaftlich organisieren und im Rahmen ihrer nationalen Organisationen an der politischen Arbeit teilnehmen;
drittens müssen sie politische Rechte erhalten, ohne die keine Integration möglich ist;
viertens müssen die nötigen Geldmittel bereitgestellt werden, wenn eine wahre Integrierung erreicht werden soll.

Natürlich werden weder die Regierungen noch das Kapital bereit sein, diese Voraussetzungen zu erfüllen. Die Gastarbeiter müssen sich also organisieren und für ihre Rechte kämpfen. Man sollte sie dabei unterstützen.

Es wurde angezweifelt, ob eine solche Schlußfolgerung in die Praxis umgesetzt werden kann. Es wurde auch bezweifelt, ob derartiges angesichts der herrschenden Arbeitslosigkeit und der mehr oder minder ausgeprägten Fremdenfeindlichkeit ratsam wäre. Um diese Zweifel zu widerlegen, müssen wir, glaube ich, in unserer Analyse weitergehen und die gegenwärtige Krise des kapitalistischen Systems samt ihren langfristigen Folgen einbeziehen.

Rückwanderung durch Kapitalexport?

In der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg und unmittelbar danach, bis zum Ende der fünfziger Jahre, war das Hauptproblem der westlichen Wirtschaft die Vollbeschäftigung: Wie kann man Vollbeschäftigung sichern und zugleich für ständiges Wachstum sorgen? Das war die Frage, vor der die Regierungen und die Ökonomen standen. Als sich in den sechziger Jahren die Kapitalakkumulation beschleunigte und auf das Hindernis der sinkenden Geburtenrate der einheimischen Bevölkerung stieß, begannen die westlichen Industriestaaten, Gastarbeiter zu importieren, um die Kapitalakkumulation zu sichern. Das Problem der sechziger Jahre war nicht mehr die Vollbeschäftigung, sondern die Frage des Wachstums, das nur durch Vergrößerung der Arbeitskräftezahl erzielt werden konnte.

Man sieht also, das Gastarbeiterproblem ist kein Problem an sich, sondern Teil des Beschäftigungs- und Wachstumsproblems der Empfängerländer. Außerdem ist in diesem Zusammenhang zu betonen, daß die kapitalistischen Länder nur mit Hilfe der Gastarbeiter Vollbeschäftigung und ständiges Wachstum aufrechterhalten konnten. Obwohl es in allen Ländern innerhalb der gegebenen Grenzen zu einer Rationalisierung, das heißt zu einer Ersetzung von Arbeitskraft durch Kapital gekommen ist, wäre ohne die Gastarbeiter ein solches Wachstum nicht möglich gewesen. Es wäre zu Rezession, Stagnation und infolgedessen zu Arbeitslosigkeit gekommen.

Die Regierungen wären gezwungen gewesen, entweder Planwirtschaft einzuführen, um die Situation unter Kontrolle zu bringen, oder ausländische Anlagemöglichkeiten für das Privatkapital zu suchen. In diesem Sinn habe ich in einem anderen Zusammenhang den Gastarbeiter als Retter des Systems bezeichnet — Retter insofern, als er Wachstum und Vollbeschäftigung und damit das reibungslose Funktionieren des Systems ermöglicht hat.

Wie eingangs erwähnt, hat das kapitalistische Weltsystem seit etwa Mitte der sechziger Jahre gewisse Strukturänderungen erfahren. Seit November 1973 verläuft dieser Prozeß in beschleunigtem Tempo und wird als „neue internationale Arbeitsteilung“ charakterisiert. Man muß diesen Komplex näher untersuchen, um festzustellen, welche Richtung dieser Trend in der Zukunft nehmen wird.

Die grundlegende Erscheinung in dieser Hinsicht ist die Internationalisierung des Produktionsprozesses, das heißt, die Internationalisierung sowohl des Kapitals als auch der Arbeitskraft. Das Kapital operiert natürlich schon seit langem im internationalen Maßstab. Aber es war jahrzehntelang im Förderungssektor konzentriert und darauf gerichtet, dem Westen die Rohstoffquellen in den Ländern der Dritten Welt zu sichern. In den sechziger Jahren verringerten sich jedoch die Möglichkeiten der Kapitalisierung. Steigende Löhne und damit steigende Produktionskosten, verminderte Absatzchancen in den Metropolen, Umweltprobleme und Forderungen nach Lebensqualität drückten auf die Profite. Anderseits erforderte der technische Fortschritt weitere riesige Investitionen, deren Rentabilität von der Aufnahmefähigkeit des Marktes abhängt.

Bis dahin hatte die Internationalisierung der Arbeitskraft die Form der Beschäftigung von Gastarbeitern angenommen. Nun jedoch suchte das Kapital einen Ausweg aus dem Dilemma, indem es gewisse arbeitsintensive Wirtschaftszweige ins Ausland transferierte. Diese Zweige erzeugen Konsumgüter, beispielsweise Textilien, aber auch forschungsintensive Zwischenprodukte, deren Herstellung noch nicht vollautomatisiert werden kann. Ich meine damit Bestandteile für Fernsehgeräte und andere elektronische Apparaturen, aber auch Autos und ähnliches. Die Chemieindustrie ist in diesem Zusammenhang ebenfalls von großer Bedeutung. Es lohnt sich jetzt, in dem Land zu produzieren, wo sich die Rohstoffquellen befinden, weil in den traditionellen Industrieländern die Kosten so sehr gestiegen sind. So wurde das Kapital, in Gestalt der internationalen Konzerne, im Weltmaßstab tätig. In dieser Phase trat die Internationalisierung der Arbeitskräfte in neuer Form in Erscheinung. Das Kapital sucht sich Arbeitskräfte dort, wo sie noch billig sind, in den Ländern der Peripherie. Auch diese Art des Internationalisierungsprozesses wurde durch Migrationsbewegungen vollzogen. Ein bekanntes Beispiel dafür ist Singapur mit seiner großen Anzahl von Gastarbeitern aus benachbarten Ländern. Folge ist die Formierung einer internationalen Bourgeoisie, deren erste Anzeichen wir beobachten; diese Bourgeoisie ist an nationalen Problemen nicht mehr interessiert.

Parallel dazu gab es in vielen Entwicklungsländern einen Industrialisierungsprozeß, der auf dem Einströmen internationalen Monopolkapitals basiert. Es handelt sich hier um eine kapitalintensive Industrialisierung, die bemerkenswerte Auswirkungen auf die Beschäftigungslage hat. Der große Widerspruch in jenen Ländern verschärft sich: Die kapitalintensive Industrialisierung reicht nicht aus, um den starken Bevölkerungszuwachs zu absorbieren, mit dem Ergebnis, daß Arbeitslosigkeit und Hunger nicht nur bestehen bleiben, sondern sich immer mehr verschlimmern.

Jedenfalls haben wir es zur Zeit mit einer Verlegung traditioneller Produktionszweige in die Entwicklungsländer zu tun, woraus sich eine neue internationale Arbeitsteilung ergibt: Länder der Dritten Welt spezialisieren sich auf Konsum- oder Luxusgüter, die wenig forschungsintensiv sind, während die Industrieländer des Zentrums sich auf die Erzeugung von Investitions-(Kapital-)Gütern und hochgradig forschungsintensiven Produkten spezialisieren.

Die Krise wird dauern

Wie erwähnt, hat die Ölpreiserhöhung diese Entwicklung beschleunigt. In den Ländern, in denen wir leben, wird die Erzeugung vieler Güter unrentabel. Es wird kein Kapital investiert. Auch wenn die Rezession vorüber ist, werden die Kapitalisten in manchen Wirtschaftszweigen nicht investieren. Außerdem müssen die Umweltprobleme und die Fragen der Infrastruktur gelöst werden, es wird verstärkte Nachfrage nach Dienstleistungen herrschen, in vielen Ländern auch nach besseren Wohnungen, besseren Schulen, moderneren Krankenhäusern usw.

Außerdem zeigt sich nun mit größerer Deutlichkeit, daß man, wenn man den Marktkräften freien Lauf läßt, vielleicht kurzfristig die Wachstums- und Beschäftigungsprobleme lösen kann, nicht aber die Probleme der Infrastruktur, der Umweltverschmutzung oder das Problem sozialer und politischer Spannungen. Es besteht ein Widerspruch zwischen den immanenten Grundprinzipien des kapitalistischen Systems einerseits und der Notwendigkeit einer Planung im Interesse der Gemeinschaft anderseits. Läßt man die Marktkräfte frei wirken, vollzieht sich eine Zunahme der Kapitalkonzentration mit all ihren nachteiligen Folgen.

Diese Probleme stehen seit November 1973 in allen westlichen Ländern auf der Tagesordnung und bilden zur Zeit Gegenstand der Diskussion. Die drei wichtigsten sind: Investitionskontrolle, Null-Wachstum und Kapitalexport. Alle drei implizieren Mechanismen, die den Prinzipien der Privatinitiative und der Profitmaximierung, auf denen das System beruht, zuwiderlaufen.

Mit der Investitionskontrolle möchte man eine institutionelle Basis schaffen, um sowohl die Rate des Wirtschaftswachstums als auch die Konzentration ökonomischer und politischer Macht in den Griff zu bekommen. Investitionskontrolle bedeutet jedoch, daß der Profit nicht mehr das Motiv für Investitionen ist und daß man Planungsmethoden und -mechanismen anwenden muß. Bleibt die Frage, wer die Kontrolle ausüben soll. Bildet man eine zentrale Regierungsbehörde mit Teilnahme von Unternehmerorganisationen und Gewerkschaften, so schafft man ein allgemeines Mitbestimmungssystem. Werden die Kapitalisten eine solche Lösung akzeptieren und damit auf ihre führende Rolle in der Wirtschaft verzichten? Das wäre das Ende der Kapitalistenklasse in ihrer klassischen Form, wie wir sie bis heute kennen. Gewinnt man jedoch ihre Zustimmung durch die Konzession, das Privateigentum an den Produktionsmitteln unberührt zu lassen, so schafft man einen staatlichen Mechanismus im Dienst privater Interessen. Der Staat würde sich dann als Knecht des Privatkapitals erweisen! Es ist offensichtlich, daß diese Fragen nicht beantwortet werden können, sofern man nicht fundamentale Änderungen an dem System, in dem wir leben, erwägt.

Ähnlich ist es mit dem Problem des Null-Wachstums. Das Grundgesetz des Kapitalismus ist Profitmaximierung durch erweiterte Reproduktion. Null-Wachstum würde einfache Reproduktion bedeuten, das heißt, die Produktion von nur soviel Konsumgütern, wie zur Aufrechterhaltung des gegebenen Lebensstandards (unter Berücksichtigung des Bevölkerungswachstums) notwendig sind, und von soviel Kapitalgütern, wie als Ersatz für die verbrauchten benötigt werden. Dies ist in einer Planwirtschaft möglich, nicht aber unter kapitalistischen Bedingungen, und zwar wieder aus den oben erwähnten Gründen. Denn wenn man die Profite beschneidet, um Investitionen zu verhindern, stürzt man die Wirtschaft in eine permanente Rezession mit negativen Wachstumsraten. Erholung würde die Förderung von Investitionen bedeuten, was Vollbeschäftigung und höhere Wachstumsraten zur Folge hätte, mit allen sich daraus ergebenden Nachteilen, die man ja vermeiden will.

Kapitalexport schließlich als ein Mittel zur Minimierung der Investitionen und damit der Nachfrage nach Arbeitskräften — natürlich auch nach ausländischen — bringt gewisse Gefahren mit sich. Wenn das exportierte Kapital nicht für immer verlorengehen soll, muß der Staat dafür sorgen, daß die Auslandsprofite hoch genug sind, um einen Anreiz zur Kapitalanlage im Ausland zu bieten. Außerdem muß das Kapital vor Konkurrenz und Risken aller Art geschützt werden. Kurz, der Staat muß in den Dienst privater Interessen gestellt werden — oder diese gewinnen völlige Kontrolle über den Staat.

Internationale Bourgeoisie, internationale Gewerkschaften?

Die allgemeine Schlußfolgerung ist also, daß jede Lösung weitreichende Systemveränderungen erfordert, welche die herrschenden Kräfte nicht akzeptieren. Im Zusammenhang mit den erwähnten Lösungen war die Rede vom Staat und der Rolle, die ihm bei diesen Lösungen zukommt. Seit dem 19. Jahrhundert versteht man den Nationalstaat als Repräsentanten nationaler Ziele und Interessen. Die Internationalisierung des Produktionsprozesses hat jedoch die Staatsgrenzen irrelevant gemacht, mit dem Ergebnis, daß Maßnahmen zur Regulierung der Wirtschaftstätigkeit innerhalb eines einzelnen Staates unwirksam werden. Ein Blick auf das Inflationsproblem, auf die Probleme des internationalen Währungssystems, der Umweitverschmutzung, des Hungers usw. bestätigt dies.

Die Internationalisierung der Produktion hat noch keinen internationalen Überbau hervorgebracht, der den neuen Verhältnissen angemessen wäre. Die EG ist ein Versuch in dieser Richtung, jedoch bisher kein sehr erfolgreicher. Außerdem tendieren die sich entwickelnden Kräfte dazu, den Nationalstaat aufzulösen oder auf bloße Verwaltungsfunktionen zu reduzieren. Wie bereits erwähnt, liegt dies durchaus im Interesse der neuen internationalen Bourgeoisie. Inzwischen betrachten Teile der nationalen Bourgeoisie und der Arbeiterklasse nach wie vor den Nationalstaat als das einzige Instrument, das sich zum Schutz ihrer Interessen eignet.

Dieser Widerspruch zeigt sich auch in den Gewerkschaften. Die Gewerkschaften denken und arbeiten immer noch im nationalen Maßstab und suchen die Interessen der einheimischen Arbeiter zu repräsentieren. Erst in jüngster Zeit ist ihnen bewußt geworden, daß die multinationalen Konzerne eine Macht sind, denen sie selbst entgegentreten müssen. Zur Zeit gibt es Versuche, die Arbeiterbewegung durch ständige enge Zusammenarbeit zwischen den Gewerkschaften zu internationalisieren. Aber die Gewerkschaften sind noch stark in ihrer nationalistischen Denkweise befangen, was in ihrer Haltung den Gastarbeitern gegenüber deutlich zum Ausdruck kommt. Hier wird der Widerspruch zwischen der Internationalisierung der Arbeitskraft und der Produktionsweise einerseits und dem nationalen Charakter der Gewerkschaften anderseits akut.

Denn obgleich die Gewerkschaften behaupten, auch die Interessen ihrer ausländischen Mitglieder zu vertreten, sind sie in Wirklichkeit gezwungen, die Interessen der einheimischen Arbeiter zu wahren. Gewiß haben sie gleiche Bezahlung in- und ausländischer Arbeiter durchgesetzt, um die einheimischen Arbeiter vor Lohndrückern zu schützen, in anderer Hinsicht jedoch akzeptieren sie die Diskriminierung der Gastarbeiter. Gegenwärtig beschränken sie sich auf verbale Proteste, tun aber in Wirklichkeit nichts, um die Gastarbeiter vor repressiven Maßnahmen der Regierung zu schützen. Liest man zwischen den Zeilen gewisser Erklärungen, die die Gewerkschaften über die Notwendigkeit, die Zahl der Gastarbeiter zu begrenzen und die Infrastruktur für sie zu verbessern, abgegeben haben, findet man die gleiche Einstellung, wie sie unter den Arbeitern vorherrscht: nämlich daß die Ausländer nach Hause verschwinden sollen, weil man sie hier nicht mehr braucht.

In diesem allgemeinen Zusammenhang sollte man meiner Meinung nach die neuen Dimensionen des Gastarbeiterproblems sehen. Die Auswirkungen der beschriebenen Entwicklungen auf die Gastarbeiter werden die folgenden sein:

  • Es gibt Anzeichen dafür, daß die Diskriminierung zunehmen wird, so daß die Rezession und die allgemeine Krise die Gastarbeiter härter treffen werden als die einheimischen Arbeiter. Das bedeutet nicht nur größere Arbeitslosigkeit, sondern auch andere Beschränkungen für sie, etwa in bezug auf das Recht, ihre Familien nachkommen zu lassen, oder das Recht, sich frei zu bewegen, Arbeit zu suchen, zu streiken usw.
  • Die Tendenz wird dahin gehen, die Zahl der Gastarbeiter auf das Maß einzuschränken, das notwendig ist, um Lücken auf dem Arbeitsmarkt zu füllen. Dies entspricht der natürlichen Neigung des Systems, sich zu schützen, indem es potentielle Faktoren sozialer und politischer Spannungen abschiebt und die Last der Arbeitslosigkeit auf die Herkunftsländer der Gastarbeiter überwälzt.
  • Die Reduzierung der Zahl der Gastarbeiter in den Ländern Westeuropas wird außerdem dadurch notwendig, daß — wie geschildert — langfristige Strukturänderungen stattfinden. Investitionskontrolie, Null-Wachstum und Kapitalexport verbieten eine weitere Ausdehnung der Gastarbeiterbeschäftigung.
  • Die verbleibenden Gastarbeiter werden im allgemeinen weiterhin mit schmutzigen, schlechtbezahlten, ungesunden und unangenehmen Arbeiten beschäftigt werden, das heißt solchen, denen einheimische Arbeiter aus dem Weg gehen. Damit können diese weiter auf der sozialen Stufenleiter aufsteigen.
  • Der letztgenannte Punkt deutet an, daß es natürlich auch dann noch Gastarbeiter geben wird, wenn einheimische Arbeiter beschäftigungslos sind. In den meisten Fällen besteht keine Konkurrenz zwischen ausländischen und einheimischen Arbeitern.
  • Schließlich wird sich in der Zukunft die Tendenz zum Kapitalexport verstärken. Das bedeutet jedoch nicht unbedingt, daß westeuropäisches Kapital in die Ursprungsländer der Gastarbeiter fließen wird. Das Kapital folgt seinen eigenen Gesetzen und investiert dort, wo es hohe und sichere Profite erwartet. Wenn Auswanderungsländer unter den erwählten sind, so ist dies reiner Zufall. Es sollte klar sein, daß der Kapitalexport nicht als Lösung des Arbeitslosenproblems der Auswanderungsländer anzusehen ist, sondern als ein Ausweg aus der Stagnation und der niedrigen Profitrate, wie sie in den westeuropäischen Ländern vorherrschen. Nur wenn die westlichen Länder besondere ökonomische und politische Interessen in den Auswanderungsländern haben, werden sie Investitionen in diesen Ländern fördern.

Bald sind wir alle Gastarbeiter

Es muß auch erwähnt werden, daß die Regierungen der Wirtsländer gewisse Scheinmaßnahmen zugunsten der Gastarbeiter treffen werden, um möglichen Spannungen und Forderungen vorzubeugen und die jüngst unter den Gastarbeitern festzustellende politische Widerspenstigkeit zu brechen. Es ist mit wachsender Repression gegen die politische Aktivität von Gastarbeitern zu rechnen.

Trotzdem oder gerade deswegen sehe ich keine andere Möglichkeit für die Gastarbeiter, ihre menschlichen und bürgerlichen Rechte zu verteidigen, als sich zu organisieren und als Gruppe sowohl innerhalb als auch außerhalb der Gewerkschaften zu kämpfen. Wenn sie keine Einigkeit mit den einheimischen Arbeitern erreichen, wird das System beide Gruppen auf gleiche Weise treffen: durch Arbeitslosigkeit, Unsicherheit und Lebensverschlechterung.

Ich fürchte, die einheimischen Arbeiter in den Wirtsländern haben dies noch nicht erkannt. Im Zuge der weiteren Internationalisierung des Produktionsprozesses wird sich immer deutlicher zeigen, daß die Kapitalakkumulation keine Rücksicht auf die Arbeitslosigkeit in den Wirtsländern nimmt. Es zählt nur die Profitmaximierung, wo immer sie innerhalb des kapitalistischen Systems am ehesten möglich erscheint. Dann erst werden die einheimischen Arbeiter erkennen, daß das Kapital keine nationalen Rücksichten kennt. Dies sieht man ja schon bei den regionalen Diskrepanzen innerhalb einzeiner Länder.

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