Heft 5-6/2002
November
2002

Das Richtige im Falschen?

Sexualität und Befreiung bei Adorno und Marcuse

Angesichts der vor allem unter räsonierenden ApologetInnen des Status quo so beliebten Rede von der permissiven Sexualität, dem Ende der Tabus, ja gar von sexueller Freiheit, erscheint es ein wenig altmodisch, im Anschluss an Freuds Repressionsthese über den Zusammenhang von Zivilisation und unterdrückter Sexualität nachzudenken. Dabei wäre die begrüßte oder beklagte Liberalisierung der Sexualmoral leicht als Ideologie zu erkennen. Wir möchten im Folgenden mit Adorno und Marcuse die befreite Sexualität in der unfreien, patriarchalen Gesellschaft als bloßen Schein entlarven. „Sexuelle Freiheit ist in einer unfreien Gesellschaft so wenig wie irgendeine andere zu denken.“ (Adorno 1997a, 535) Mehr noch: „Unter der Herrschaft eines repressiven Ganzen lässt Freiheit sich in ein mächtiges Herrschaftsinstrument verwandeln.“ (Marcuse 1994, 27)

Verwaltete Sexualität

Die Sexualität wurde nicht befreit, sondern integriert und weiter diszipliniert. Wie bei den politischen Integrationsleistungen der spätkapitalistischen Gesellschaft kommt der Kulturindustrie auch hier zentrale Bedeutung zu. Der „an- und abgestellte, gesteuerte und in ungezählten Formen von der materiellen und kulturellen Industrie ausgebeutete Sexus wird, im Einklang mit seiner Manipulation, von der Gesellschaft geschluckt, institutionalisiert, verwaltet. Als gezügelter ist er geduldet.“ (Adorno 1997a, 534) Die angebliche Befreiung der Sexualität ist also vielmehr ihre Entschärfung. Sie ist „als sex, gleichsam eine Variante des Sports, entgiftet“ (ebd., 535) oder neutralisiert worden. Hinter der Annahme eines grundsätzlich subversiven Charakters des ursprünglichen, noch nicht gesellschaftlich deformierten Sexus steht der angenommene Widerspruch, in welchem das Lustprinzip zum repressiven Realitätsprinzip [1] als Instrument und Ausdruck der Vergesellschaftung steht. Aber dieser „Gegensatz zwischen Trieb und Vernunft ist selbst ein gesellschaftlicher. (...) Der geschichtliche Charakter des Realitätsprinzips verbietet es, den Widerspruch zwischen Glück und Moralität, Lustprinzip und Realitätsprinzip zu hypostasieren.“ (Marcuse 2002, 149) Dem radikal zersetzenden Sexus unter den Bedingungen ideologischer Vergesellschaftung setzte Marcuse deshalb die soziale Kraft des befreiten Eros, der bei Freud mehr als Sexualität, nämlich die Gesamtheit der Lebenstriebe [2] meint, entgegen.

In der Pornographie, die oft als Beleg für einen freieren und enttabuisierten Umgang mit Sexualität genommen wird, äußert sich in Wahrheit die erfolgreiche Ausdehnung des Leistungsprinzips, dem „Realitätsprinzip der Periode“ (ebd., 183), zulasten des Lustprinzips: Die Sexindustrie zeigt mehrheitlich ja nicht Menschen, die sich lustvoll an ihrer polymorphen Sexualität erfreuen, sondern eindimensionale Fickmaschinen, die arbeiten. (Und die Arbeit ist das genaue Gegenteil, ja der Todfeind von Lust und Eros.) Die Lust wird von der Kulturindustrie aufgesaugt und hört dann auf solche zu sein. In „dem gesamten monopolistisch kontrollierten und standardisierten Sexualbetrieb (...) (haben) Vor- und Ersatzlust die Lust überflügelt“ (Adorno 1997a, 535).

Die Sexualtabus sind nicht gefallen, sondern nur modifiziert worden. Mit den Veränderungen in der Herrschaft hat sich auch die konkrete Gestalt der Sexualtabus verändert: „Die genitale Sexualität (...) ist nicht länger der Angriffspunkt.“ (ebd., 536f) Wenn also heute die OpitmistInnen des Fortschritts die zunehmende Lockerung der Sexualtabus feiern, ist ihnen der Charakter dieser enttabuisierten Sexualität vor Augen zu führen. Am Beispiel der Lockerung des Tabus Homosexualität lässt sich dies aktuell nachvollziehen: Die gesellschaftliche Akzeptanz der Homosexualität hat zur Bedingung deren quasi genitale Erscheinungsform, z. B. in der „Homo-Ehe“.

Marcuse leugnet nicht die fortschrittlichen Aspekte der Lockerung der Sexualmoral, die insbesondere in einer Reduktion der Schuldgefühle und den wachsenden Befriedigungsmöglichkeiten (zumindest genitaler Sexualität) liegen, weist aber mit Nachdruck auf den damit einhergehenden beschleunigten Siegeszug des Realitätsprinzips hin: „Die Ausdehnung der Kontrolle auf ehemals freie Regionen des Bewusstseins und der Muße gestatten eine Lockerung der Sexual-Tabus (...). Heute ist die sexuelle Freiheit (...) zweifellos größer. Zur gleichen Zeit aber sind die sexuellen Beziehungen selbst viel enger mit sozialen Beziehungen in Verbindung getreten; die sexuelle Freiheit ist mit nutzbringender Konformität in Gleichklang gebracht worden. Der fundamentale Gegensatz zwischen Geschlechtlichkeit und sozialer Nutzbarkeit (...) hat sich durch die fortschreitende Einflussnahme des Realitätsprinzips auf das Lustprinzip verwischt.“ (Marcuse 1965, 95f) Mit der Lockerung der Tabus wurde die genitale „Sexualität gesellschaftsfähig gemacht, damit aber auch belastet mit dem, dessen diese Gesellschaft fähig ist.“ (Marcuse 2002, 142)

Die repressive oder kontrollierte Entsublimierung, [3] also die Liberalisierung der genitalen Sexualität ist herrschaftsstabilisierend, weil sie „die Triebrevolte gegen das bestehende Realitätsprinzip“ (Marcuse 1965, 96) schwächt. Die herrschende Illusion von Befriedigung blendet das Bewusstsein der Versagungen und verstellt das Bedürfnis nach Befreiung. „Im Gegensatz zur Destruktivität des befreiten Eros dient die gelockerte Sexualmoral innerhalb des befestigten Systems monopolistischer Kontrollen selbst dem System.“ (ebd.)

Auch Marcuse betont in seiner Kritik das Moment der Integration: „Institutionalisierte Entsublimierung erscheint (...) als ein Aspekt der ‚Bewältigung der Transzendenz’, wie die eindimensionale Gesellschaft sie erreicht hat. Ganz wie diese Gesellschaft im Bereich der Politik und höheren Kultur dazu tendiert, die Opposition (die qualitative Differenz!) abzubauen, ja aufzusaugen, so auch in der Triebsphäre. Das Ergebnis ist ein Absterben der geistigen Organe, die Widersprüche und Alternativen zu erfassen, in der einen verbleibenden Dimension technologischer Rationalität gelangt das Glückliche Bewusstsein zur Vorherrschaft.“ (ebd., 98)

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Supremat der Genitalität

Diese scheinbar glückbringende Entsublimierung der (genitalen) Sexualität, hat aber auch die Sexualität selbst verändert: „Die Organisation der Sexualität weist die Grundzüge des Leistungsprinzips und seiner Organisierung der Gesellschaft auf. Freud betont den Aspekt der Zentralisierung. Sie wirkt sich besonders in der ‚Vereinigung’ der verschiedenen Objekte der Partialtriebe zu dem einen libidinösen Objekt des anderen Geschlechts und in der Aufrichtung des genitalen Supremats aus. In beiden Fällen ist der Vereinigungsprozeß ein verdrängender — das heißt, die Partialtriebe entwickeln sich nicht frei zu einer ‚höheren’ Stufe der Befriedigung, die ihre Ziele beibehielte, sondern werden abgeschnitten und zu Hilfsfunktionen reduziert. Dieser Prozeß erreicht die sozial notwendige Desexualisierung der Körpers: die Libido [4] wird in einem Teil des Körpers konzentriert, wodurch fast der ganze übrige Körper zum Gebrauch als Arbeitsinstrument frei wird.“ (ebd., 52f) Die Partialtriebe werden der Genitalität untergeordnet.

Auch Adorno weist im Anschluss an Freud darauf hin, dass die herrschende und akzeptierte Form der Sexualität nicht die ursprüngliche ist, sondern das Resultat einer repressiven Integration: In der genitalen Sexualität „schließen unterm Zwang gesellschaftlicher Anpassung die Partialtriebe des Kindes, über die Agentur der Familie, zu einem Einheitlichen und dem gesellschaftlichen Zweck der Fortpflanzung Günstigen sich zusammen.“ (Adorno 1997a, 537) Die „von den als pervers geächteten Partialtrieben ganz gereinigte Genitalität (ist) arm, stumpf, gleichsam zum Punkt zusammengeschrumpft. Desexualisierung der Sexualität wäre wohl psychodynamisch zu verstehen als die Form des genitalen Sexus, in der dieser selber zur tabuierenden Macht wird und die Partialtriebe verscheucht oder ausrottet.“ (ebd., 537f)

Diese tabuierten Partialtriebe leben aber unter dem genitalen Supremat weiter, man verdrängt sie bei sich selbst und verfolgt sie bei anderen. Von jeder möglichen Bewusstwerdung abgeschlossen, erzwingen sie pathologische Reaktionsweisen auf das Auftauchen verbotener Wünsche. Tatsächlich erklärt sich ein Teil der sexuellen Überdetermination des Rassismus und Antisemitismus aus dem Mechanismus der Projektion. Dies gilt unmittelbarer noch für die Homophobie und die autoritären Strafphantasien (bis hin zur Kastrationsdrohung) gegenüber „Kinderschändern“ und „Vergewaltigern“.

Entgegen dem Geschwätz von der sexuellen Befreiung trägt also die Libido „weiterhin das Kennzeichen der Unterdrückung und manifestiert sich in den scheußlichen Formen, die in der Kulturgeschichte so wohlbekannt sind: in den sadistischen und masochistischen Orgien verzweifelter Massen, ‚gesellschaftlicher Eliten’, verhungerter Söldnerbanden, der Aufseherhorden in Gefängnissen und Konzentrationslagern. Eine dergestalte Freisetzung von Libido bildet eine periodisch notwendige Abfuhr für unerträgliche Versagung; statt die Wurzeln der Triebhemmung zu schwächen, stärkt sie sie“. (Marcuse 1965, 200) Sadistische Triebentladungen hängen also mit verdrängten eigenen Wünschen der abgeschnittenen Teile des Eros, die auf Nicht-Identische projiziert werden, zusammen.

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Gegensatz zwischen Trieb und Vernunft?

Das Lustprinzip wurde vom Realitätsprinzip nur zum Teil abgelöst, es regiert weiter im Unbewussten, das auch den Ort der verdrängten Erinnerung an die Einheit von Glück und Freiheit darstellt. „Diese innerste Überzeugung, obwohl sie vom Bewußtsein abgelehnt wird, beunruhigt das Seelenleben weiterhin; sie bewahrt die Erinnerung an frühere Stadien der persönlichen Entwicklung, wo die vollständige (integrale) Befriedigung erreicht wurde. Und die Vergangenheit fährt fort, einen Anspruch auf die Zukunft zu erheben: sie erzeugt den Wunsch, dass auf der Grundlage zivilisatorischer Errungenschaften das Paradies wiederhergestellt werde.“ (ebd., 24) Die viel umfassenderen Ansprüche des Eros schlummern also unausrottbar in uns. Dies stellt die individuelle (aber unbewusste) Grundlage menschlichen Freiheitsstrebens dar.

Es ist der Eros und nicht der Logos, der laut Freud das „Wesen des Seienden“ bestimme: „Sein ist wesentlich Streben nach Lust. (...) Der erotische Impuls, die lebende Substanz zu ‚immer größeren Einheiten’ zusammenzufassen, wird damit zum Urtrieb der Zivilisation, und die bewusste Anstrengung der vergesellschafteten Individuen, die Natur für ihre Bedürfnisse zu meistern und zu verwandeln, steht ursprünglich ganz im Dienste des Eros. Notwendigkeit wird erlebt als Not, die seinen Bedürfnissen entgegensteht. Dann aber wird der Kampf ums Dasein im Interesse der Herrschaft organisiert und die Erfahrung der Herrschaft wird zur Grunderfahrung. Wenn das Wesen des Seins als Logos gefasst ist, ist es schon der Logos der Herrschaft — die Vernunft, der sich Mensch und Natur zu unterwerfen haben.“ (Marcuse 2002, 184f)

Lustprinzip und Realitätsprinzip waren ursprünglich nicht in derart entgegengesetzt, „erst unter den Bedingungen der repressiven Zivilisation treten Sexualität und Selbsterhaltungstrieb innerhalb der Lebenstriebe auseinander“. (ebd., 187) Analog zur individuellen Regression, dem Rückfall auf eine bereits überwundene Entwicklungsstufe, ist vom Standpunkt der Gesellschaft und der Vernunft aus „die Triebbefreiung Rückfall in die Barbarei.“ (ebd., 151) Das Lustprinzip braucht die Korrektur durch den Logos, um gegen die Natur bestehen zu können, insofern ist eine Rückentwicklung zum reinen Lustprinzip tatsächlich unmöglich. Mit Marcuse lässt sich jedoch eine „zusätzliche Unterdrückung“ als „durch die soziale Herrschaft notwendig gewordene Beschränkungen“ von der „(Grund-)Unterdrückung“ als „Triebmodifizierung, die für das Fortbestehen der menschlichen Rasse in der Kultur unerlässlich ist“ (Marcuse 1965, 40) unterscheiden. Adorno weist auf die Schwierigkeiten dieser realen Unterscheidung bei Freud hin: Dieser „schwankt, theorielos und in Anpassung ans Vorurteil, ob er den Triebverzicht als realitätswidrige Verdrängung negieren oder als kulturfördernde Sublimierung preisen soll. In diesem Widerspruch lebt objektiv etwas vom Januscharakter der Kultur selber, und kein Lob der gesunden Sinnlichkeit vermöchte ihn zu glätten.“ (Adorno 1997b, 66)

Die Durchsetzung des Leistungsprinzips, die zusätzliche Repression, ging Hand in Hand mit einer fundamentalen Enterotisierung des Menschen und seiner Objektwelt (insbesondere durch die Mechanisierung der Arbeit): „Die Umgebung, von der das Individuum Lust empfangen konnte — die es als Genuss gewährende fast wie erweiterte Körperzonen besetzen konnte — wurde streng beschnitten. Damit reduziert sich gleichermaßen das ‚Universum’ libidinöser Besetzungen. Die Folge ist eine Lokalisierung und Kontraktion der Libido, die Reduktion erotischer auf sexuelle Erfahrung und Befriedigung.“ (Marcuse 1994, 92f)

Mit der Technologieentwicklung wurde aber gleichzeitig das Maß an gesellschaftlich notwendiger Triebunterdrückung verringert: „Die Rationalisierung und Mechanisierung der Arbeit reduzieren allmählich das Quantum an Triebenergie, das in die Kanäle mühseliger Anstrengung (entfremdeter Arbeit) geleitet werden musste und stellen damit Energien frei, die sich der Erreichung von Zielen zuwenden können, wie das freie Spiel individueller Fähigkeiten sie setzt. Die Technik arbeitet insofern gegen die repressive Ausnützung von Energie, als sie die für den lebensnotwendigen Produktionsprozeß erforderliche Zeit verringert und dadurch Zeit für die Entwicklung von Bedürfnissen jenseits des Bereichs des Notwendigen und Unerlässlichen zur Verfügung stellt.“ (Marcuse 1965, 94) Das Leistungsprinzip hat also gleichzeitig „die Vorbedingungen für ein qualitativ anderes, nicht unterdrückendes Realitätsprinzip geschaffen“ (ebd., 129). „Die Idee eines (...) nicht-repressiven Realitätsprinzips ist keine Ausgeburt der bloßen Spekulation: sie ist im Fortschritt der Zivilisation selbst als reale Möglichkeit entstanden. Ihre Verwirklichung setzt die materiellen und intellektuellen Errungenschaften der repressiven Kultur voraus — es ist das bestehende Realitätsprinzip selbst, das über sich hinausweist.“ (Marcuse 2002, 184)

Gleichzeitig werden jedoch Mechanismen in Bewegung gesetzt, um dieses Potential an seiner Umsetzung zu hindern: „Aber je näher die reale Möglichkeit rückt, den Einzelnen von den ehemals durch Mangel und Unreife gerechtfertigten Einschränkungen zu befreien, desto mehr steigert sich die Notwendigkeit, diese Einschränkungen aufrecht zu erhalten und immer funktionstüchtiger zu gestalten, damit sich die bestehende Ordnung nicht auflöst. Die Zivilisation muß sich gegen das Traumbild einer Welt verteidigen, die frei sein könnte.“ (Marcuse 1965, 94f)

Marcuse folgert daraus, dass „eine Versöhnung des Lustprinzips mit dem Realitätsprinzip nur möglich ist, wenn das Realitätsprinzip selbst verändert wird“. (Marcuse 2002, 143) Daher denkt er die Befreiung der Sexualität gemeinsam mit einem anderen Realitätsprinzip, mit einer höheren Stufe der Kultur. Nur auf dem Boden der reifen Zivilisation kann der Gegensatz zwischen Libido und Vernunft, Lust- und Realitätsprinzip aufgehoben werden. Ansonsten droht tatsächlich der Rückfall in die Barbarei.

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Von der genitalen Sexualität zum Eros

Marcuses Utopie einer Versöhnung von Sinnlichkeit und Lust mit der Vernunft bedarf also eines neuen Realitätsprinzips. Dieses hat zur Voraussetzung wie zur Folge eine entsublimierte Vernunft genauso wie eine sublimierte Sinnlichkeit. Am Horizont erscheint ihm eine „Wiedervereinigung“ der gesellschaftlichen Moral mit den Trieben, wobei beide ihre Struktur verändern würden. Das Ziel ist eine „Beziehung zwischen dem, was wünschenswert und dem, was vernünftig ist, zwischen Trieb und Vernunft. Mit der Wandlung von der Sexualität zum Eros entfalten die Lebenstriebe ihre sinnliche Ordnung, während die Vernunft in dem Maße sinnlich wird, als sie die Notwendigkeit im Sinne der Bereicherung und Förderung der Lebenstriebe erfasst und organisiert. (...) Das Lustprinzip greift auf das Bewusstsein über; der Eros definiert die Vernunft in seinem Sinne. Vernünftig ist nun, was die Ordnung der Befriedigung unterstützt.“ (Marcuse 1965, 220) Polymorphe (und nicht bloß genitale) Sexualität und Eros werden wieder Zweck statt bloß Mittel zum Zweck, der Integration in bestehende Verhältnisse.

Freud legitimiert die Kultur und ihrer repressive (Verdrängungs-)Leistung mit dem Todestrieb, der unterdrückt werden müsse und der natürlichen Lebensnot (Ananke), die bewältigt werden müsse. Sein Problem liegt in der Annahme eines natürlichen Aggressionstriebs der Menschen, dem man nur durch Kultur und Herrschaft entgegenwirken kann. Deswegen kann er ein nicht-repressives Realitätsprinzip nur als Regression fassen. Demgegenüber betont Marcuse: „Wirkliche Triebbefreiung (bedeutet) nicht einfach Freisetzung, sondern Verwandlung der Libido (...): von der unter dem Genitalprinzip organisierten Sexualität zur Erotisierung der ganzen Persönlichkeit“. (Marcuse 1994, 153) Dies gelingt, indem „die sich frei entwickelnde Libido die Triebbefriedigung ausdehnt auf eine Totalität vormals nicht-sexueller Beziehungen (...). Solche Verwandlung der Sexualität hat den Charakter einer vom Trieb selbst vollzogenen nicht repressiven Sublimierung. Die befreite Libido aktiviert nicht einfach prä-kulturelle und infantile Stadien, sondern verändert den Inhalt dieser Stadien.“ (ebd., 154)

Mit dieser Verwandlung der Sexualität in Eros verwandelt sich auch der Begriff der Sublimierung: Voll entwickelte nicht-repressive Sublimierung „wäre Sublimierung ohne Desexualisierung: der Trieb ist von seinem Ziel nicht abgelenkt; er erfüllt sich zielgemäß in Tätigkeiten und Beziehungen, die libidinös und erotisch sind — aber nicht-sexuell im Sinn der unter dem bestehenden Realitätsprinzip organisierten Sexualität.“ (Marcuse 2002, 158) Frühere, unter dem repressiven Realitätsprinzip desexualisierte Beziehungen können dann wieder lustbesetzt werden.

„Das ist eine Ausweitung statt einer Explosion von Libido — eine Ausdehnung über private und gesellschaftliche Beziehungen, die die von einem repressiven Realitätsprinzip aufrechterhaltene Spaltung überwindet. Diese Umwandlung der Libido wäre das Ergebnis einer gesellschaftlichen Umwandlung, die das freie Spiel individueller Bedürfnisse und Fähigkeiten ermöglichen würde. Kraft dieser Bedingungen unterscheidet sich die freie Entwicklung umgewandelter Libido jenseits der Institutionen des Leistungsprinzips ihrem Wesen nach von der Freisetzung gehemmter Sexualität innerhalb des Bereichs dieser Institutionen.“ (Marcuse 1965, 199) Vorbedingung dafür ist die Aufhebung des Leistungsprinzips. Triebbefreiung jenseits kollektiver Regression ist also nur zu haben als Befreiung von der Lohnarbeit.

Literatur

  • Adorno, Theodor W. (1997a): Sexualtabus und Recht heute, in: ders.: GS 10.2. Frankfurt a. M.
  • Ders. (1997b): Minima Moralia, in: ders.: GS 4. Frankfurt a. M.
  • Laplanche, J.; Pontalis J.-B. (1999): Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt a. M.
  • Marcuse, Herbert (1965): Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud. Frankfurt a. M.
  • Ders.: (1994): Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. München
  • Ders. (2002): Nachgelassene Schriften. Hrsg. v. Peter-Erwin Jansen. Lüneburg

[1Lust- und Realitätsprinzip sind nach Freud die „beiden Prinzipien, die das psychische Geschehen beherrschen.“ Das Realitätsprinzip stellt eine Modifikation des Lustprinzips dar: „Die Suche nach Befriedigung (geht) nicht mehr auf den kürzesten Wegen vor sich, sondern schlägt Umwege ein und schiebt ihr Ergebnis aufgrund von Bedingungen auf, die durch die Außenwelt auferlegt werden.“ (Laplanche/Pontalis 1999, 427)

[2Unter Trieb ist ein „dynamischer, in einem Drang bestehender Prozeß (...), der den Organismus auf ein Ziel hinstreben läßt“ (ebd., 526f) zu verstehen. „Nach Freud ist die Quelle des Triebes ein körperlicher Reiz (Spannungszustand); sein Ziel ist die Aufhebung des an der Triebquelle herrschenden Spannungszustandes; am Objekt oder dank diesem kann der Trieb sein Ziel erreichen.“ (ebd., 527) In seiner letzten Triebtheorie unterschied Freud zwischen Lebens- und Todestriebe. Erstere „streben danach, immer größere Einheiten zu schaffen und aufrechtzuerhalten“ (ebd., 280), zweitere „nach der vollständigen Aufhebung der Spannung (...), d.h. danach, das Lebewesen in den anorganischen Zustand zurückzuführen.“ (ebd., 494)

[3Mit Sublimierung versuchte Freud diejenigen „menschlichen Handlungen, die scheinbar ohne Beziehung zur Sexualität sind, deren treibende Kraft aber der Sexualtrieb ist“ (ebd., 478), zu fassen. „Der Trieb wird in dem Maße `sublimiert´ genannt, in dem er auf ein neues, nicht sexuelles Ziel abgelenkt wird und sich auf ein neues, nicht sexuelles Objekt richtet.“ (ebd.)

[4Unter Libido soll hier die quantitative Seite der Lebenstriebe, deren Energie, verstanden werden (vg. Ebd. 284ff).

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