FORVM, No. 331/332
Juli
1981

Das Ganze und das Nichts

Der Wiener Kreis zwischen Roten und Grünen

Nach der Niederschlagung der Arbeiterbewegung am 12. Februar 1934 wurden die letzten Sozialdemokraten aus der Universität vertrieben, Max Adler etwa, dessen Ernennung zum Ordinarius die Burgbrüder der „Deutschen Gemeinschaft“ schon 1926 verhindert hatten. [1] Schwieriger ging es schon mit den Neopositivisten des Wiener Kreises, denn die gehörten immerhin auch zur Bourgeoisie. Sie waren Liberale, vielleicht sogar Linksliberale, und standen in einem Gegensatz zu den Austrofaschisten, aber sie hatten ihre Verbindungen. Schlick war, wie alle Professoren, die bleiben wollten, der Vaterländischen Front beigetreten.

Schlick und Wittgenstein, beide aus Industriellenfamilien stammend, schufen mit dem logischen Empirismus die Philosophie des modernen Industrialismus, des Zeitalters der technischen und organisatorischen Rationalisierung. Moritz Schlick, 1882 in Berlin geboren, dissertierte bei Max Planck in theoretischer Physik und lernte Einstein Ende des Ersten Weitkriegs an der Universität Rostock kennen. Privat spielten sie gemeinsam Mozartsonaten, Einstein Geige und Schlick Klavier. Schlick war der erste, der die allgemeine Relativitätstheorie philosophisch interpretierte. 1922 wurde Schlick, auf Betreiben des Mathematikers Hans Hahn, dem Gründer des Vereins Sozialdemokratischer Hochschullehrer, nach Wien berufen. Den Lehrstuhl für „Philosophie der induktiven Wissenschaften“ hatten vor Schlick schon Ludwig Boltzmann und Ernst Mach inne.

Schlicks Philosophie wollte im Grunde über die Naturwissenschaften nicht hinausgehen. Angeregt von den Leistungen, die um die Jahrhundertwende vor allem bei der kritischen Durchforstung verschiedener formalwissenschaftlicher Disziplinen erzielt worden waren (Plancks Quantentheorie, Einsteins Relativitätstheorie, Hilberts Axiomatik der Geometrie), wollte Schlick auch die Philosophie von überflüssiger Metaphysik gründlich sichten. Logische Kritik und Sprachkritik sollte die Philosophie von Scheinproblemen befreien. Später entwickelte sich daraus unter Mitwirkung von Schülern wie Carnap und Neurath das Programm der „Einheitswissenschaft", also eine Durchdringung aller anderen Wissenschaften mit dem Apparat der Formalwissenschaften.

Der Gipfel dieser Entwicklung war die Mathematisierung der Sozialdisziplinen, etwa die später in den USA erfolgte Einführung der Spieltheorie in die Ökonomie durch John von Neumann und Oskar Morgenstern, [2] beide Teilnehmer von Schlicks Wiener Donnerstag-Abend-Seminar, das dann „Wiener Kreis“ genannt wurde. Die Anwendung der Theorie der strategischen Spiele auf wirtschaftliches Verhalten brachte einen wesentlichen Fortschritt in Richtung auf Mathematisierung der Ökonomie. Morgenstern war bis 1938 Leiter des Instituts für Wirtschaftsforschung in Wien; auch durch den Sozialisten Otto Neurath bestand noch eine gewisse Kontinuität im Gedankengut der Wiener Grenznutzenschule der Ökonomie (Böhm-Bawerk, Menger, Wieser) zur Philosophie des Wiener Kreises, dem auch Carl Mengers Sohn Karl als Mathematiker angehörte.

Brückenbauer zwischen Wiener Kreis und Austromarxismus sowie überhaupt Motor für Öffentlichkeitsarbeit war Otto Neurath, dessen Betriebsamkeit sich Schlick zwar gefallen ließ, auf dessen proletarisches Gehabe er aber immer ein bißchen heruntersah. Neurath gründete 1928 den Verein „Ernst Mach“ mit Schlick als Vorsitzendem.

Von den konservativen Angehörigen des Wiener Kreises wurde der Mach-Verein eher als sozialistischer Schulungszirkel empfunden. [3] Dementsprechend hat ihn auch das Dollfußregime im Februar 1934 zusammen mit allen sozialdemokratischen Organisationen aufgelöst. Vorstandsmitglied Hans Hahn war Freidenkerfunktionär, und der Mach-Verein hatte zeitweise das Büro bei den Freidenkern.

Was Neurath und Carnap an antimetaphysischer Polemik vom Stapel ließen, richtete sich meist direkt gegen die katholische Kirche, die in der Ersten Republik als Hort der Christlichsozialen und Protektorin der Heimwehren eine große politische Rolle spielte. Schlicks begabtester Schüler Rudolf Carnap war bei der Jugendbewegung am Hohen Meißner 1913 mit dabeigewesen, später wurde er Kriegsfreiwilliger, als Oberleutnant Soldatenrat in Berlin und Mitglied der USPD, also Linkssozialist. Seine Enthüllung von Heideggers Trick der Substanzialisierung des Nichts (1931) [4] gehört zu den Wendemarken der Philosophiegeschichte. Indem Carnap dem Martin Heidegger mit den Mitteln der formalen Logik nachwies, daß er vom „Nichts“ so redete wie von etwas, hob er den existenzialistischen Schmus begrifflich aus den Angeln.

Ähnlich radikal wirkt Schlicks Kritik am Ganzheitsbegriff, dem Lieblingsspielzeug der Austro-Autoritären, wenn sie auch nicht so aggressiv vorgetragen wurde.

Die „Ganzheit“, so zeigte Schlick 1933 in einem Aufsatz, [5] in dem er physikalische Beispiele heranzog, schaut je nach Betrachtung und herausgegriffener Gruppe von Objekten verschieden aus, ist nichts Festes, Absolutes. Der Satz, daß „das Ganze den Teilen logisch vorangehe“, sei, so sagte Schlick mit Recht, eine leere Phrase. Ausdrücklich wandte sich Schlick gegen „die Existenz höherer Wesenheiten wie Volkswille, Nation, Stand“ — deren Verabsolutierung sei ein „primitives philosophisches Mißverständnis“. Mehr noch als die Marxisten mußte eine derart radikale Grundsatzkritik die Autoritären ärgern, die ihren Ständestaat aus solchen „Ganzheiten“ ableiteten.

Die Auseinandersetzung der neoliberalen Philosophie mit dem autoritären Kurs war also unausweichlich.

[1Siehe die Dokumentation im FORVM November/Dezember 1971 (die Originaldokumente befinden sich bei den Seyß-lnquart-Papieren im Bundesarchiv Koblenz)

[2John von Neumann/Oskar Morgenstern: Spieltheorie und wirtschaftliches Verhalten, Würzburg 1961

[3Heinrich Neider: Persönliche Erinnerungen an den Wiener Kreis, Conceptus, Innsbruck, Jg. 1977, S. 21 ff.; Friedrich Stadler: Gesellschaftlicher Hintergrund des Wiener Kreises, Akten des 3. Int. Wittgenstein-Symposiums 1978, Kirchberg a.W., S. 41 ff.

[4Rudolf Carnap: Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache, Neudruck in: Hubert Schleichert (Hg.): Logischer Empirismus — der Wiener Kreis, München 1975, S. 149 ff.

[5Moritz Schlick: Gesammelte Aufsätze 1926-36, Wien 1938, 8.251 ff.; Schlicks „Allgemeine Erkenntnislehre“ erschien neu als suhrkamp taschenbuch wissenschaft nr. 269 (Frankfurt 1979); über die Philosophie des Wiener Kreises informiert Viktor Kraft: Der Wiener Kreis, Wien 1968 (2. Auflage)

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