FORVM, No. 12
Dezember
1954

Cinemascope

oder Man sieht den Film vor lauter Bildern nicht

Wir saßen im Kino und sahen einen Schwarzweißfilm. Und wir merkten nicht, daß uns die Farben fehlten. Nach zwei, drei Minuten hatten wir uns an das Fehlen der Farben gewöhnt, und die Bilder von der Leinwand konnten uns überzeugen. Es war ein Tonfilm, und wir merkten nicht, daß er nur eine einzige Tonquelle hatte, daß nur in der Mitte hinter der Leinwand ein Lautsprecher war, aus dem alle Stimmen, alle Geräusche kamen. Es fiel uns nicht auf. Unsere Sinnesorgane formten aus den Eindrücken, die sie erhielten, eine ganze Welt.

Wir sahen einen Farbfilm und wir merkten nicht, daß ihm die Tiefenschärfe fehlte. Gewiß, die Farben störten uns oft, sie blendeten, es waren nicht die „richtigen“ Farben, sie waren grell und taten dem Auge weh. Aber im Lauf der Jahre wurde das Technicolorsystem, das zumindest im Westen immer noch das gebräuchlichste ist, getestet, und die Farben wurden natürlicher. Und wir gewöhnten uns an die Farbfilme.

Mit dem Stummfilm allerdings war es eine andere Sache. Daß ihm der Ton fehlte, haben wir nie vergessen können. Aber er hat uns dafür zu entschädigen gewußt, indem er uns manchmal Kunst gab; indem er vollkommen war: im Bild. Wenn wir Charlie Chaplin sahen, mußten wir uns nicht Ton oder Tiefenschärfe, Farbe oder sonstwas ergänzen, denn wir sahen alles im Bild.

Nun sehen wir Cinemascopefilme. — Und merken jetzt erst, wieviel wir früher im Kino geleistet haben. Wir haben Stimmen bestimmten Darstellern zugeordnet, obwohl Bild und Tonquelle vielleicht meterweit auseinanderlagen. Wir haben uns auf den Vordergrund konzentriert und die fehlende Tiefenschärfe war uns bedeutungslos. Ich weiß nicht, ob wir darüber froh sein sollen, daß wir nunmehr im Kino so wenig leisten müssen. Ist es beim Romanlesen nicht das Schönste, daß wir uns eigene Vorstellungen über die Personen des Buches und ihre Landschaften und Städte machen können?

Wir werden uns rasch an Cinemascope gewöhnen. Und ich fürchte, er wird uns so verwöhnen, daß wir einen Schwarzweißfilm mit einer einzigen Tonquelle ohne beweglichen Ton und ohne Lautsprecher auch hinter uns einmal gar nicht mehr werden ertragen können. Wir werden dessen überdrüssig werden, im Kino noch irgend etwas zu leisten. Vielleicht werden wir auch einmal nach „Feelies‘‘ verlangen, wie sie Huxley voraussagt, nach Filmen, die unseren Tastsinn ansprechen, die wir fühlen können.

Man hat uns zum Cinemascopefilm ein Schlagwort gegeben: Durch Cinemascope wird eine bisher ungeahnte Teilnahme an der Wirklichkeit möglich. Aber diese sogenannte Teilnahme am Geschehen enthüllt sich uns bei näherer Betrachtung als eine Verdammung zu völliger Passivität. Der Zuschauer wird zwar in die Handlung mit einbezogen, aber nicht als Mitspieler, sondern als Opfer. Cinemascope ermöglicht nicht eine Teilnahme an der Wirklichkeit, sondern sie erweckt nur die Illusion der Teilnahme an der Wirklichkeit: wir haben den Überblick verloren. Wir sehen nicht mehr alles, was geschieht. Wir stehen dem Geschehen auf der Leinwand gänzlich verloren gegenüber, wir sind ihm ausgeliefert. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit der rechten Bildseite zuwenden, geschieht links etwas ganz Unvorhergesehenes. Wir spüren die Gefahr, die unserem Helden von dieser Seite droht, aber wir sehen sie nicht genau. Und sehen wir dann schnell nach links, entgeht uns, ob unser Freund inzwischen der drohenden Feinde gewahr wurde oder ob er ahnungslos ist wie zuvor. Wir beherrschen die Breitbildleinwand ebensowenig wie wir die Wirklichkeit beherrschen. Die Ablenkung ist vollkommen, Sammlung unmöglich.

Die Chance des alten Films lag darin, daß er Ausschnitte geben konnte. Kunst ist nur in der Beschränkung möglich, in der Beschränkung auf das Wesentliche, das in dichter, in komprimierter Form erscheint. In der Wahl eines ganz bestimmten Ausschnittes lag ein schöpferisches Element des alten Films. Cinemascope aber kann wesensmäßig nur noch die äußere Wirklichkeit reproduzieren, kann also nicht mehr schöpferisch sein. Es kann in uns die Illusion entstehen lassen, daß es die ganze unübersehbare Wirklichkeit ist, die da geboten wird. Es stehen ihm viele technische Hilfsmittel zur Verfügung, die diese Illusion zueiner gelungenen Täuschung machen. Aber es wird doch immer nur eine Täuschung bleiben müssen. Denn wir stehen der Cinemascope-Wirklichkeit ganz anders gegenüber als der „wirklichen‘‘ Wirklichkeit. Wir können im Kino nicht ordnend eingreifen, können uns aus den gezeigten Bildern keine Welt zusammensetzen. Wir können uns nicht von einem Anblick, der uns nicht zusagt, abwenden, und in die andere Richtung schauen. Wir können nicht links gehen, wenn die Kamera nach rechts wandert. Der Cinemascoperiese hält unseren Kopf fest und zwingt uns, dorthin zu schauen, wo er will, daß wir hinschauen.

Aber konnten wir denn im alten Normalfilm dorthin sehen, wohin wir sehen wollten? Sicherlich nicht. Aber solange uns eben eine Filmwelt und keine Wirklichkeitsillusion geboten wurde, verlangten wir gar nicht danach. Solange die Kamera uns nur überblickbare Ausschnitte vorsetzte, folgten wir ihr willig.

Dem Kino sind wir gewachsen, der Wirklichkeit nicht. Wir wissen: die Ängste und Schrecken, die uns in einem Film erwarten, sind nur für zwei Stunden. Wir suchen sie auf, weil wir ein gewisses Bedürfnis danach haben. Weil wir eine Gefährdung wollen, bei der wir uns in den Finger zwicken können: alles nicht wahr! Wenn uns im Augenblick auch meist die Reaktionsfähigkeit und die Distanz fehlen mögen, dies zu tun: vorher und nachher wissen wir, daß wir es tun könnten.

Es ist der große Vorteil von Cinemascope, sehr viel zur Klärung der Begriffe beizutragen. Wer vom Film Kunst verlangt, wird in Zukunft ins Art-Kino gehen müssen, wo er Schwarzweißfilme, vielleicht sogar mit der Schmalfilmkamera aufgenommen und ohne Ton, sehen wird. Und wer sich vom Film in fremde Länder entführen lassen will, also Lust auf die Illusion der Wirklichkeit hat, wird ins Cinemascopekino gehen. In Großreportagen und Dokumentarfilmen, insbesondere von geographischen und ethnologischen Fakten, liegen die eigentlichen Möglichkeiten des Cinemascopeaufnahmeverfahrens. Nur ein Narr könnte von Cinemascope — und da die ganze Entwicklung des Film zur Breitbildleinwand, also zu Cinemascope und Cinerama, tendiert, vom Film überhaupt — noch Kunst erwarten.

Die Fronten sind klar. Die Kunst in unserem Jahrhundert geht konsequent den Weg zu ihren Grundelementen zurück. Die Gedichte eines T.S. Eliot wie einer Marianne Moore zeigen dies ebenso klar wie die Bilder eines Kandinsky oder Mondrian. Immer mehr wird vom Leser oder Beschauer verlangt. Sein Empfindungsvermögen wird entwickelt, indem er gezwungen wird, mehr und mehr zu leisten. Er muß imstande sein, in seinem Bewußtsein das Kunstwerk, das Gedicht, das Bild zu schaffen; kann er das nicht, so nimmt er deren Qualitäten nicht wahr.

So gesehen erscheint uns Cinemascope nur als die natürliche Reaktion auf die Kunst unserer Zeit. Der überforderte Mensch steckt seinen Kopf in den Sand der Wirklichkeit. Weil er von allem nichts mehr sehen will, sieht er Cinemascope. Aber auch, wenn wir zu Cinemascope flüchten, entgehen wir dem nicht, wovor wir flüchten.

So sehen wir jetzt Cinemascope, wie wir früher Schwarzweißfilme und Farbfilme gesehen haben, und wissen nicht, was ihm fehlt. Ebensowenig wie wir wissen, was uns fehlt. Haben wir also wieder etwas geleistet oder haben wir versagt?

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