FORVM, No. 347/348
Dezember
1982

Chaplin in der Ökomödie

Die Chaplin-Szenen der Stummfilmzeit geistern durch unsere Köpfe: Da versucht einer, eine Holzhütte im Sturm zu halten, eine Wand scheint eingedrückt, an einer Dachstelle kommt der Regen durch — und immer, wenn etwas in Balance gebracht ist, wird es im nächsten Augenblick wieder beschädigt. Nichts ist stabil, kein Moment der Ruhe. Nichts ist je so zu Ende, daß es nicht jeden Augenblick wieder neu aufgenommen werden müßte. Umweltpolitiker im Bundestag machen diese Erfahrungen genau so. Slapstick-Szenen, fast ohne Publikum, in denen sie mit guten Absichten, Kenntnissen und viel Fleiß, bestärkt durch die Angst der Bürger um den beschädigten Zustand der Natur, ihrem Metier nachgehen — der Entgiftung der Industriegesellschaft vom Langen Eugen aus.

Warum so trüb? Haben wir nicht viel vorangebracht bis zu dem absurden End- und Halbzeit-Theater dieses Herbstes? Veränderung der Technischen Anleitung Luft, verstärkter Ausbau des Umweltbundesamtes, dichteres Überwachungsnetz gegen Umweltbeschädigungen in der Bundesrepublik, große Umweltinvestitionen der Industrie, Einschränkung des Fernstraßenbaus, Ankurbelung des Radwegebaus, Herabsetzung des Nitratgehalts im Trinkwasser, Chemikaliengesetz, Reduktion beim Bleigehalt der Luft in Großstädten um 60%, von Staub um 50% ...

„Kommt ihr voran?“

Ein Gesichtspunkt läßt mich zögern, mit Ja zu antworten.

Die Globalität des Problems: Umweltpolitik, wie sie Parlament und Regierung machen, wie sie Firmen machen müssen, wenn sie weiter existieren wollen, ist ja stets ein nur äußerst geringer Eingriff in den globalen Vergiftungsprozeß unserer Industriegesellschaft. Das große Entsetzen kam über eine ganze Generation wie Wetterleuchten: Ja, es könnte vielleicht die ganze Welt vergiftet, alles Leben beschädigt, die belebte Natur beendet werden durch das, was Industrie und Verhalten der Industriemenschen den natürlichen Kreisläufen täglich antun. Es geht um die ganze Welt, es geht um alle Vorgänge — den Kreislauf des Wassers, die Zerstörung des Bodens, die Nahrungskette von Pflanzen, Insekten, Vögeln und Säugetieren. Was ist da ein einzelner neuer Grenzwert? Was nützt da ein ausgewiesenes Belastungsgebiet, ja selbst das nationale oder europäische Territorium sind doch nur die kleineren Einheiten. Wo England die Themse säubert, kippt es die Nordsee voll.

Ökozorn

Das ist die Kehrseite des apokalyptischen Zorns: Wo die ganze Welt bedroht ist, wird die Rettung des Stadtwaldes winzig. Als Abgeordneter begegne ich auch zunehmend jungen Bürgern, die sich wohl insgeheim in eine Art Zauberflöte wünschen, einen weisen Sarastro, ausgestattet mit einer ätherischen Polizei, welche die Natur wieder zu sich selbst bringt (was immer dies sein mag). Abgeordnete, Minister, Exekutivbeamte sind keine Sarastros, sie stehen unter Druck, sie verlieren ihren Punkt aus den Augen. Für sie ist die Natur häufig ein abstrakter Wert, aufgeschrieben in einer Vorlage, die sie abhaken. Wir können nichts selbst überprüfen — wo sind die Naturwissenschaftler unter uns Abgeordneten? Und wenn wir mal einen treffen, dann wundert der sich über unseren Ökozorn und macht uns mit Chemikermiene klar, wir hätten nur irrationale Ängste und von Tuten und Blasen keine Ahnung.

Horrorerfolg

Aber besonders unsere eigenen Erfolge sind geeignet, den engagierten Umweltschützer schier zur Verzweiflung zu bringen. Uns selbst übrigens auch. Unzählige Gruppen und Interessenten auf kommunaler und Landesebene, auf Verbandsebene, erst recht auf EG-Ebene lähmen unsere Forderungen — wir sind wie Chaplin, oft hilflos in einem Arrangement, dessen Regie wir nicht merken (ein Unterschied zu Chaplin, der sein eigener Arrangeur war). Zwei Ökomödien, deren Opfer wir hier in Bonn waren:

Ökomödie Nr. 1

Das Stück heißt Der Saure Regen. Es ist ein ernstes Stück, kaum ein deutscher Zeitungsleser, den das Thema nicht erschüttert hätte. Der Stoff hing sozusagen in der Luft. Dieses Stoffes haben sich seit einiger Zeit ganz eigentümliche Theaterdirektoren bemächtigt: Die Lobby-Gruppen und Lobby-Zeitschriften der Elektrizitätswirtschaft, die glauben, mit der Angst vor dem Sauren Regen und um die sterbenden Wälder den Durchbruch der Kernenergie und die Schwächung der Anti-Atom-Front zu erreichen. Ein ominöser Arbeitskreis Energie nahm sich des Sauren Regens an. Am 1. September hat die Bundesregierung in einer Kabinettsvorlage nun folgendes beschlossen (für die Umweltpolitiker bei FDP und SPD, trotz drohender Ehescheidung, ein Grund zur großen grünen Freude):

Sieg ...

Entwurf einer Großfeuerungsanlagen-Verordnung.

...Die Emissionen der wichtigsten Schadstoffe werden durch strenge Anforderungen nach dem Stand der Technik begrenzt. Die Emissionen an Schwefeldioxid sind in der Regel auf 400 mg/m3 festzulegen. Soweit in Ausnahmefällen höhere Werte notwendig sind, dürfen sie 650 mg/m3 nicht überschreiten ...

Sofort meldeten sich Energie- und Strom-Lobby: „Das gefährdet die Kohle, das gefährdet die Arbeitsplätze, das gefährdet die Strompreise, das geht zu Lasten des Verbrauchers.“ Wo die Verordnung von 400 mg per m3 spricht, verschweigen die Altanlagen-Besitzer, daß sie Kraftwerke haben, die über 3000 mg/m3, einzelne, die bis zu 5000 mg/m3 ausstoßen. Rauchgasentschwefelung — verordnet vom Staat — ist jedoch die einzige Möglichkeit, aus der Kohlenutzung eine Zukunfts-Technologie werden zu lassen. Die Milliarden für den Schnellen Brüter oder den Hochtemperaturreaktor sollten dem Steuerzahler und dem Verbraucher aufgehalst werden, aber die Zukunftsindustrie giftfreie Kohlekraftwerke wird nun bejammert. Vom Sauren Regen ist nicht mehr die Rede. Grund? Die Altanlagen mit ihren 3000-Werten gehören zu denselben Firmen, die die Kernenergie betreiben. Aber die Ökomödie der Energie-Lobby ist in Wahrheit die Tragödie der Kraftwerkrealität.

Wie wäre es damit:

... der Technik

Die Kraftwerke in der Bundesrepublik werden verpflichtet, in halbstündigem Abstand ihre Schwefeldioxid-Ausstöße fanfarenhaft mit Lautsprechern zu verkünden. Da hätte dann das Berliner BEWAG-Werk. cinen Wert von 250 mg/m3, das 1984 neu in Betrieb gehende Kraftwerk Buschhaus in Niedersachsen gar einen von 12.650 mg/m3 (kein Druckfehler, das 50-fache). Das kriminelle Tohuwabohu des „Standes der Technik“.

Ökomödie Nr. 2

Abgeordnete, die ihren Auftrag ernst nehmen, hatten sich zusammengesetzt und beraten, was gegen das Seveso-Gift zu tun sein, das im sogenannten Herbizid 2,4,5-T enthalten ist.

Irgendwann im Januar 1981. Ein Pressebericht hatte darauf hingewiesen, daß 2,4,5-T in den Vereinigten Staaten verboten worden sei.

Wir gingen es selbstsicher an. Bei so unverdächtigen Vorbildern — UdSSR, USA, Schweden und Australien hatten es verboten — konnte 2,4,5-T unserem Frontalangriff bestimmt nicht widerstehen.

Die erste Enttäuschung kam für die Neulinge unter uns, als wir sahen, daß die Bundesregierung mehr Fleiß darauf verwandt hatte, unsere Fragen auf vier verschiedene Ressorts zu verteilen, als darauf, wie wir gemeinsam das Gift loswerden können.

Dr. Liesel Hartenstein, Vorsitzende der sozialdemokratischen umweltpolitischen Arbeitsgruppe im Bundestag, hatte sich alle bekannt gewordenen Daten und Informationen zu diesem Gift beschafft, wir waren unserer Sache sicher.

Und die Regierung blockte ab.

Die Verteilung auf die verschiedenen Ressorts bedeutete, daß die Regierung die Sache nicht ernst nahm, daß das Spielchen „Regierung panzert sich gegen Abgeordnete durch Verfahrensvorteile“ gespielt wurde.

und ...

Wir haben dann in einem zweiten Anlauf eine kleine Anfrage eingebracht. Anfang Mai kam die Antwort. Sie ermutigte, machte aber auch das ganze Ausmaß bisheriger behördlicher Unbekümmertheit deutlich: „Sind Waldbeeren vorhanden, so dürfen die Flächen nur nach der Beerenernte bzw. bis zum Beginn der Beerenblüte behandelt werden, andernfalls ist dafür zu sorgen, daß die Beeren nicht verzehrt werden.“

... des Giftes

Aber am 23. Juli 1981 widerruft das Bundesgesundheitsamt die Zulassung für die Anwendung aller 2,4,5-T-haltigen Mittel. Wir Abgeordneten haben das Gefühl, etwas erreicht zu haben. Wir waren auf jene abstrakte Weise beruhigt, die für den Politiker wie für den Journalisten gleichermaßen gefährlich ist: auf dem Papier hatten wir gewonnen.

Wir hatten 2,4,5-T zu den eigenen Akten gelegt, abgehakt, wie Politik so abgehakt wird. Erfolgreich sogar. Und dann, zwölf Monate später, steht im EG-Amtesblatt Nr. C 170/6 der lapidare Satz, daß „ein Verbot der Vermarktung und Verwendung von 2,4,5-T-Herbiziden im Zusammenhang mit der Richtlinie 79/117/EWG für die ganze Gemeinschaft nicht gerechtfertigt wäre“. Und das Bundesgesundheitsamt erklärt sein „Einverständnis mit einer befristeten Weiterzulassung auf drei Jahre“. Begründung: „... beruht ausschließlich auf der Abschätzung von Gesundheitsrisiken für Mensch und Tier bei bestimmungsgemäßer und sachgerechter Anwendung ...“

Wir schrecken auf. Wir gehen der Sache nach und erfahren, daß der Widerspruch der Firmen dazu geführt hatte, das Gift gar nie vom Markt zu nehmen. Und wir erfahren auch (was wir zuvor nicht wußten), daß die Erlaubnis für 2,4,5-T ohnehin im Oktober 1982 (!) ausgelaufen wäre, daß das Amt sich aber um den parlamentarischen Wirbel kaum gekümmert, sondern eben um drei Jahre verlängert hat. Wir sind um eine Erfahrung reicher und um ein Stück Optimismus ärmer.

Das Ökodrama, das sich beim entscheidenden Schritt von der wahrnehmbaren Verschmutzung zur nicht mit den Sinnesorganen wahrnehmbaren Vergiftung abspielt, findet seine Entsprechung in der öffentlichen Debatte und in der Politik als Komödie.

Akteure wissen plötzlich nicht mehr, ob sie nach eigenem Text spielen oder gezogen werden an den Fäden, auf deren tänzerische zweite Natur uns Kleist hingewiesen hat, und die sich Chaplin zunutze hat machen können. Aber keine Angst. Wir machen weiter: wir müssen klüger werden, wacher werden, und wir bauchen — help, help, help, yeah, yeah, yeah —, wir brauchen Menschen, die unsere Sysiphusschritte ernst nehmen.

Ökologie ist die große Herausforderung an die Demokratie und die Demokraten: Wer auf eine Zauberflöte, Sarastro nebst Ätherpolizei hofft und die Demokratie zum Kotzen findet, wird einem Herrn aus Hameln folgen.

Ob sie’s wohl lesen, meine fünfhundert* Kollegen vor dem grauen Adler?

P.S.: Lieber Freimut, bitte doch Frau Faupel, Kopien verteilen zu lassen, wir haben nicht so viel zuviel gedruckt. Diejenigen Deiner Kollegen, die bis hierher gelesen haben, belohnen wir mit einem ganzen halbwegs interessanten Heft, Postkarte genügt, Kennwort „2,4,5-MdB“, an FORVM, Museumstraße 5, 1070 Wien.

Herzlich Dein Gerhard

P.P.S. Auch Abo-Bestellungen nehmen wir gerne entgegen.

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