FORVM, No. 209/I/II
April
1971

Breschnjews Commune

Notizen zum XXIV. Parteitag der KPdSU

Auf dem XXIV. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion griff Breschnjew in seinem Bericht den Vorschlag de Gaulles für eine Fünferkonferenz über atomare Abrüstung auf. Wir wünschen, daß diese diplomatische Initiative Erfolg hat. Aber so wenig die Unterstützung dieses Vorschlags eine Bejahung der gesamten gaullistischen Politik impliziert, so wenig bedeutet die Unterstützung des Breschnjew-Planes das Verschweigen der Fehler des Breschnjew-Regimes.

Es ist eine gefährliche Illusion, was in der Außenpolitik der Sowjetführer die Verteidigung von Großmachtinteressen ist, zu verwechseln mit Verteidigung des proletarischen Internationalismus und des Sozialismus.

Es muß klar sein, daß es den sowjetischen Führern unmöglich wäre, Vietnam nicht zu helfen, unabhängig davon, wie das dortige Regime beschaffen ist: dies würde den sowjetischen Rückzug aus Asien bedeuten, man würde damit Asien der Hegemonie Amerikas überantworten, man würde China das Monopol des Widerstands gegen diese Hegemonie überlassen. Dies wäre für die Sowjetunion eine wirtschaftliche, politische und militärische Katastrophe. (Der Zar konnte auch nicht die Expansion des Deutschen Reiches auf den Balkan zulassen.)

Kuba aufzugeben, würde den Rückzug aus Lateinamerika bedeuten.

Ägypten aufzugeben, hieße auf die so dringend angestrebte Präsenz im Mittelmeer verzichten.

Für Frankreich wie für die Bundesrepublik ist Ausbau der Beziehungen mit der Sowjetunion die einzige Politik, die es ermöglicht, sich von der amerikanischen Umarmung freizumachen. Deswegen ist Antisowjetismus ein Vergehen gegen die nationalen Interessen und gegen den Frieden, insbesondere zu einem Zeitpunkt, wo die amerikanischen Politiker, nach ihrem Mißerfolg in Laos, den Einsatz von taktischen Nuklearwaffen gegen Nordvietnam nicht ausschließen.

Aber dieselbe klare Sicht der Lage verbietet uns, die offiziellen Beziehungen mit der Sowjetunion gleichzusetzen mit den Beziehungen der Kommunistischen Parteien zur Kommunistischen Partei der Sowjetunion.

Denn eben jene Machtpolitik, die nichts zu tun hat mit Grundsatzpolitik, führte die sowjetischen Politiker dazu, dem griechischen Widerstand und der spanischen Opposition in den Rücken zu fallen durch Wirtschaftshilfe für die faschistischen Obristen und für Franco; den Völkermord in Biafra zu unterstützen; die sozialistische Demokratie in der Tschechoslowakei zu zerstören.

In diesem Punkt ist Breschnjew in seinem Bericht vor dem Parteitag weiter gegangen als in allen seinen früheren Erklärungen: „Es handelte sich nicht nur um einen Versuch des Imperialismus und seiner Helfershelfer, das sozialistische System in der Tschechoslowakei zu stürzen, sondern auch um den Versuch, damit die Positionen des Sozialismus in Europa zu schwächen.“ Diese Erklärung Breschnjews war an die Adresse der Kommunistischen Partei Frankreichs gerichtet. Wenn die ČSSR „von außen bedroht“ war, war es Verrat, die sowjetische Hilfe für ein Bruderland zu verdammen. Man mußte Breschnjew vielmehr für seine Intervention danken. Das hat Husák auch getan.

KPF-Generalsekretär Marchais hat bis jetzt zu diesem Angriff Breschnjews geschwiegen. Er heuchelt Empörung über die Husák-Rede, die doch die logische Folge der Breschnjew-Rede ist. Während Marchais in Frankreich gegen Husák sprach, machte er in Moskau Breschnjew nicht die geringsten Schwierigkeiten: die 5000 Delegierten zum Parteitag und das sowjetische Volk wissen weiterhin nicht, daß die französischen Kommunisten ihre Verurteilung des sowjetischen Vorgehens 1968 aufrechterhalten.

Mit der Komplizität unseres Schweigens wird also die „Normalisierung“ weitergehen in Prag, wo gegen 19 Trotzkisten und gegen General Prchlik genau jene politischen Prozesse begonnen haben, die Husák nicht abzuführen und Marchais zu verurteilen versprochen hatten. In dem Augenblick, da es bei Breschnjew und seinem Führungsteam liegt, allein darüber zu entscheiden, ob es in einem Land eine internationale konterrevolutionäre Verschwörung gibt oder nicht — in diesem Augenblick ist jedes beliebige sozialistische Land von sowjetischer Intervention bedroht. Im Jänner wurde in der tschechoslowakischen Armee eine Enquête durchgeführt über die Frage, ob sie eventuell bereit sei, in Polen einzuschreiten. Mehr als 60 Prozent der Antworten waren negativ. Die Säuberung der Armee wurde daraufhin beschleunigt.

Es gibt weitere Indikatoren für Stalinismus auf dem XXIV. Parteitag:

Vom wirtschaftlichen Standpunkt ist der IX. Fünfjahresplan auf äußerste Zentralisierung ausgerichtet (auch wenn er im Jänner dieses Jahres nach der Krise in Polen überstürzt abgeändert wurde, um den Konsum etwas stärker zu fördern). Er sieht „die Planung und Führung der Wirtschaft des Landes von einem einzigen Rechenzentrum und durch ein einziges automatisiertes Lenkungssystem“ vor. Lenin sagte: Sozialismus ist Sowjets plus Elektrizität. Breschnjew korrigiert Lenin: Sozialismus ist Stalinismus plus Computer.

Das ist die „Linie“ des XXIV. Parteitags.

Breschnjew bestätigt in seinem Bericht — gefolgt von einer Sturzflut von Reden ohne die geringste Opposition — die stalinistische Auffassung der Gewerkschaften als „Transmissionsriemen“ für die Entscheidungen der Partei. Als „Konzession“ fügte er hinzu, daß die Bevormundung nicht „kleinlich“ sein darf.

Auf politischer Ebene kommt die Rückkehr zum Stalinismus im Appell an die „Disziplin“ zum Ausdruck, in einer Gesinnung, die wir im „Kommunist“, der offiziellen theoretischen Zeitschrift der KPdSU (Nr. 1, Jänner 1971) dokumentiert finden: Ein langer Artikel über die „Autorität der Führung“ besteht auf der „wachsenden Rolle der Führer“, auf der in jeder Gesellschaft gegebenen Notwendigkeit einer Autorität, eines beherrschenden Willens, sei es die Autorität eines einzelnen, sei es die eines Kollektivs“.

Daran dachte Marchais ohne Zweifel, als er die sowjetischen Führer dazu beglückwünschte, „daß sie es verstanden haben, das Ideal der Pariser Cummune Realität werden zu lassen“.

Dieses Ideal wurde unmittelbar vor Beginn des Parteitags illustriert durch die Einweisung all derer, die auch nur einen schwachen Ansatz öffentlicher Kritik äußerten, in psychiatrische Kliniken oder Lager, wie der Physiker Sacharow und der Historiker Yakir mitgeteilt haben.

Was Kunst und Literatur anlangt, hat Breschnjew in bester Stalinscher Tradition ihre strikte Unterordnung unter die unmittelbaren Anforderungen der Politik allen ins Gedächtnis gerufen.

Aufschlußreich ist die Tatsache, daß Breschnjew in seinem Bericht persönlich Roger Garaudy, Ernst Fischer und „Il Manifesto“ als die ärgsten Feinde anprangerte: Für eine Führungsgruppe, deren oberstes Ziel die Aufrechterhaltung ihres Apparats und ihres Systems ist, ist der ärgste Feind weder Nixon noch Franco noch die griechischen Faschisten, mit denen man Kompromisse schließen kann, sondern die militanten Kommunisten, die offen sagen: „Ihr entstellt den Sozialismus und ihr verzögert damit überall seinen Sieg!“

Auch den Sieg in der Sowjetunion.

Die Sowjetunion ist kein kapitalistisches Land: das Privateigentum an den Produktionsmitteln ist abgeschafft. Diese Abschaffung ist die notwendige Bedingung für den Sozialismus, nicht jedoch die hinreichende: in der Sowjetunion gibt es weder die politischen Superstrukturen des Sozialismus („Sozialismus durch das Volk und nicht für das Volk“, wie Lenin sagte), noch die kulturellen Superstrukturen, die die Rolle der freien schöpferischen Kräfte anerkennen. Es handelt sich also in der Sowjetunion um den Übergang zum Sozialismus. Dieser Übergang wird durch den bürokratischen Apparat und eine despotische Machtkonzeption blockiert.

Während die Oktoberrevolution in der ganzen Welt ein wunderbares Feuer revolutionärer Begeisterung entzündete, ist die Politik der gegenwärtigen sowjetischen Führung ein Hindernis für die Demokratisierung der sozialistischen Länder und eine Bremse für die Entwicklung der revolutionären Bewegung in den kapitalistischen Ländern.

Die beste Art, diese Blockierung aufzuheben, liegt nicht im Verschweigen der sowjetischen Perversionen des Sozialismus, sondern im Aufzeigen der Möglichkeit, diese Perversionen zu überwinden durch die autonome Schaffung eines eigenen sozialistischen Modells. Die historische Erfahrung seit der Pariser Commune und das überall wieder im Entstehen begriffene Streben nach Arbeiterräten bestätigt mehr denn je den Grundsatz, den Rosa Luxemburg formuliert hat: „Es gibt keine Demokratie ohne Sozialismus, und keinen Sozialismus ohne Demokratie.“

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