FORVM, No. 259/260
Juli
1975

Bonaparte kommt

Panorama der portugiesischen Revolution

1 Bonaparte & Co. — ein Revolutionsvergleich

Eine Revolution ist die beste Schule der Dialektik. Im periodischen Sturz der Fraktionen folgt die portugiesische der Logik aller entwickelten Revolutionen, z.B. der klassischen französischen: Nach dem Scheitern der Reformen von Necker (Einführung neokapitalistischer Methoden unter Caetano) fällt der Absolutismus (Faschismus), und der gemäßigt monarchistische (faschistische) General Lafayette (Spinola) kommt an die Macht. Dann versucht es der Führer der Gironde (SP), der fette Demagog Danton (Soares), der insgeheim im Solde Englands und Österreichs (des CIA und der Ebert-Stiftung) steht. Aber er unterliegt den Jakobinern (Kommunisten) unter Robespierre und Saint Just (Cunhal und Gonçalves), die mit Unterstützung der Pariser Sansculotten-Sektionen (Arbeiterräte) hinaufkommen. Sobald dieses Regime die Enragés (Maoisten/Trotzkisten) und schließlich auch die Hébertisten (Linkssozialisten) niedergeschlagen hat, wird es selbst von den Thermidorianern (Spinolisten) gestürzt — nach außen hin scheint das wie eine Rückkehr der Gironde (SP), innerlich ist es eine Restauration der Herrschaft des Großkapitals (Großkapitals). Diese Herrschaft wird nur unwesentlich gestört durch die Aufstände der Sansculotten (Räte). Bald darauf treten die Kapitalisten (Kapitalisten) ihre Herrschaft in der Form des Directoire (gaullistisch gelenkter Parlamentarismus) offen an; die „Verschwörung der Gleichen“ Babeufs (LUAR Palma Iñacios bzw. PRT/BR) hat dagegen keine Chance. Angesichts der inneren und äußeren Schwierigkeiten legt das Directoire (der portugiesische Gaullismus) die Macht in die Hand General Bonapartes (Carvalhos) ...

Mit der Juli-Offensive der SP steht Portugal an der Schwelle des „Gironde“-Stadiums. Angesichts der Wirtschaftskrise und des unzureichend gesäuberten Militär- und Staatsapparats ist eine Phase des „Terreur“ unausbleiblich — die Frage ist nur, ob die „Jakobiner“ überhaupt zur Macht kommen oder ob gleich ein bonapartistisches Regime errichtet wird, das sich auf ein militärisch gelenktes Rätesystem stützt, mit einem Staatskapitalismus als ökonomischer Grundlage.

Der Faktor Räte überschreitet den Vergleich mit der französischen Revolution, da die Sektionen der Pariser Sansculotten des Jahres II zu schwach waren, um eine echte Doppelherrschaft zu provozieren. Hier paßt eher das russische Beispiel: verlorener Krieg (Kolonialkrieg), Märzrevolution (25. April 1974), Übergangsregierung des Fürsten Lwow (Spinola), Kerenski-Regierung (Soares), Entfaltung der Arbeiter- und Bauernräte zur Nebenregierung = Doppelherrschaft (embryonische Parallele: I. Arbeiter- und Soldatenrätekongreß in Lissabon am 19./20. April 1975), Novemberrevolution der Bolschewiki (MES? FSP? PRT/BR? LUAR? Maoisten? Trotzkisten?) mit Hilfe der Petrograder Garnison (COPCON), Herrschaft der Räte, in denen die Bolschewiki die Mehrheit haben, Bildung einer Räteregierung aus Bolschewiki und linken Sozialrevolutionären; die Konstituante (verfassunggebende Versammlung) wird auseinandergetrieben, die politischen Parteien einschließlich der Menschewiki (PSP) und der linken Sozialrevolutionäre (PCP) werden unterdrückt.

Ein Vergleich mit Kuba drängt sich auf, wenn man an die Hereinnahme der KP in die Einheitspartei denkt (Projekt einer „zivilen MFA“ vom 9. Juli 1975). Der Konflikt MFA/Spinola im September 1974 erinnert an Fidel Castros Zusammenstoß mit Präsident Urrutia Mitte 1959 in Sachen Agrargesetz — nur daß Gonçalves nicht über TV eine Million Arbeiter und Bauern in die Straßen Lissabons rief. — Sollten die Räte die Militärs nicht überrunden, dann wird sich auch in Portugal ein „linker“ staatskapitalistischer Caudillo etablieren, wie sie gegenwärtig in Kuba, Peru oder Rumänien herrschen. General Carvalho fuhr am 21. Juli nach Kuba, um dort zu lernen ...

2 Schartiges Schwert, gespaltene Prätorianer

Um unblutig an die Macht zu kommen, schloß die Bewegung der Streitkräfte (MFA) mit Spinola einen Kompromiß. Er lautete, daß die rechten Offiziere im Kommando blieben; von daher datiert die Regierungsschwäche der MFA. Im Juli 1974 versuchte Premier Palma Carlos (vergeblich), für Spinola eine gaullistische Konstruktion zu errichten — wie sie Karamanlis in Griechenland mittlerweile zur Verfügung steht. Die Putschversuche der Spinolisten vom 28. September 1974 und. 11. März 1975 kamen zwar nicht durch (Spinola mußte am 30. September als Präsident zurücktreten und am 11. März nach Spanien fliehen), sie führten aber nur zu marginalen Säuberungen. Rechte Offiziere gibt’s nicht nur in der Armee (vor allem im Generalstab und in der Luftwaffe), sondern auch in der MFA selbst und sogar im COPCON. [*] Die Krise des COPCON Mitte Mai 1975 zeigte den Zwiespalt auf, der die MFA lähmt — ja sie offenbarte sogar eine Scharte im berühmten Schwert der Revolution.

Die Krise begann am 13. Mai mit der Freilassung von 20 im Märzputsch Verhafteten, darunter Salazars Außenminister Franco Nogueira. Angesichts dieser Fahrlässigkeit und Säumigkeit der MFA-Führung griffen linke Soldaten und Maoisten zur Selbsthilfe.

Brennpunkt der Ereignisse war das Leichte Artillerieregiment Nr. 1 (RAL 1) in Sacavem, einem Vorort von Lissabon. Die „Ralis“ sind die linkeste Einheit des COPCON, ein Mekka der militärisch interessierten Linken Europas (Sartre war dort). Das Regiment hat eine strategisch wichtige Stellung im Norden Lissabons an der Straße nach Madrid, wenige hundert Meter vom internationalen Flugplatz entfernt. Aus all diesen Gründen war das RAL 1 das primäre Angriffsziel des Putsches vom 11. März. RAL 1-Kommandant Major Dinis de Almeida hatte sich schon am 1. Mai in einem Interview beklagt, man habe einen links eingestellten Hauptmann aus seinem Stab entfernt und einen Leutnant, der sich im Märzputsch zu ihm geschlagen habe, verhaftet. Fast der gesamte Generalstab sei reaktionär, man boykottiere ihn, indem man das Regiment ausdünne (aktueller Mannschaftsstand knapp 600 statt 1.000). Über seinen Vorgesetzten, den COPCON-Chef Brigadegeneral Otelo Saraiva de Carvalho, sagte Almeida: „Ich habe auch im COPCON gesagt, daß uns die Luftwaffe attackieren würde, aber Otelo hat mir nicht geglaubt. Er ist ein sehr ehrenhafter General, ich schätze ihn sehr — aber er ist politisch naiv: er glaubt nicht an Hintergedanken“ (Politique hebdo, 14. Mai 1975).

Linker Flügelmann im COPCON:
RAL 1-Kommandant Major Dinis de Almeida

Die revolutionäre Selbstjustiz begann am 15. Mai mit der Verhaftung eines ehemaligen Marineinfanteristen durch sieben maoistische Soldaten des RAL 1. Der Ex-Mariner war vom COPCON schon seit einiger Zeit überwacht worden, da man ihn verdächtigte, mit Spinolas spanischer Exiltruppe ELP zusammenzuarbeiten. Die Ralis übergaben ihren Gefangenen der maoistischen Organisation MRPP, welche ihn zwei Tage lang verhörte und dann zum RAL 1 zurückbrachte. Aufgrund seiner Aussagen ließ ein rasch gebildetes Revolutionstribunal etwa 20 Personen verhaften und in die Kaserne nach Sacavem bringen — darunter einen Funktionär der CDS und einen Richter des Obersten Gerichtshofes. Auch ein COPCON-Offizier war dabei, ein Leutnant des Regiments von Amadora. Dann wurden zwei weitere Namen genannt: Oberst Jaime Neves, Kommandant des Regiments von Amadora, und Hauptmann Salgueiro Maia vom Kavallerieregiment (Panzer) in Santarem (Le Monde, 1. Juni 1975). Als diese beiden ins Spiel kamen, wurde es gefährlich — das COPCON drohte zu zerbrechen.

Ein Rechtsputschist?
Panzerhauptmann Salgueiro Maia am 25. April 1974 vor der Carmo-Kaserne

Maia war der herausragende Held des Umsturzes vom 25. April 1974: der dreißigjährige Hauptmann, Sohn eines Eisenbahners und Lehrer an der Kavallerieschule Santarem, hatte den Staatschef Caetano in der Carmo-Kaserne verhaftet. Aber waren es nicht gerade Maia und Neves gewesen, an die sich Spinola am 11. März um Unterstützung gewandt hatte? Gewiß, sie hatten ihm nicht Folge geleistet — aber wie kam er auf die Idee? Ist es ein Zufall, daß die Ralis immer mit den Linken zu sehen sind, daß sie es waren, welche die streikenden Arbeiter der República beschützten, während die von Amadora die belagerten Rechtsdemonstranten aus dem Lissaboner Bischofssitz evakuierten? Mittlerweile hatte die MRPP Neves und Maia durch Maueranschläge öffentlich denunziert und rief die Massen auf, sich vor den Kaserenen in Amadora und Santarem zu versammeln, um eine Verhaftung der beiden Offiziere zu erzwingen.

In diesem Augenblick griff die Militärführung ein. Otelo Carvalho und Generalstabschef Carlos Fabiao versammelten die Offiziere der drei Regimenter und vergatterten sie auf Niederschlagung der Untersuchung. In Konsequenz bedeutete das auch die Niederschlagung der MRPP, die mittlerweile schon vor der amerikanischen Botschaft demonstriert hatte und überhaupt eine umfassende Verschwörung am Werk sah. In der Nacht vom 28. zum 29. Mai überfallen COPCON-Truppen die MRPP-Lokale und sperren an die 500 Maoisten in das Caixas-Gefängnis, wo im übrigen noch die PIDE-Geheimpolizisten des vergangenen Regimes sitzen (insgesamt 1.200). COPCON rechtfertigt sich in einem Kommuniqué damit, daß es die einzig legale revolutionäre Gewalt übe und Eigenmächtigkeiten nicht dulden könne. Nach welcher Legalität aber handeln die Kommunisten, die sich an der Mao-Hatz beteiligen, nachdem sie von einer Pro-MFA-Kundgebung am Abend des 28. Mai zurückkommen? (Die KP hatte vor dem Belem-Palast unter allen Junta-Mitgliedern ausgerechnet ihren zukünftigen Henker, den Führer der rechten Militärs, in rhythmischen Rufen gefeiert: „Fabiao! Fabiao! Fabiao!“)

Carvalho, der Ende Mai die „spalterische und konterrevolutionäre Rolle“ der Maoisten anprangerte, mußte in einem Radiointerview am 15. Juni selbst die Frage aufwerfen, ob man nicht vielleicht „Hunderte oder Tausende Konterrevolutionäre hätte eliminieren sollen“. Er erinnerte an die PAIGC in Guinea, die Zehntausende Konterrevolutionäre ohne viel Aufsehen hingerichtet hätte, während in Portugal schon die Inhaftierung des verschwörerischen Bankiers Espirito Santo Aufregung verursachte. „Hoffen wir“, schloß Carvalho, „daß wir es nicht einmal teuer bezahlen müssen, die Konterrevolutionäre nicht nach Campo Pequeno gebracht zu haben, wenn sie uns selbst hinbringen ...“ (Le Monde, 18. Juni 1975). Am 29. Juni flohen 89 PIDE-Mitglieder aus dem Gefängnis in Alcoentre; ein Teil konnte sich nach Spanien absetzen. Die Maoisten saßen weiter. Unter dem Feuer des Angriffs der Rechten mußte das COPCON schließlich am 19. Juli bekanntgeben, daß es die Maoisten „wegen der kritischen Lage“ freiließe (erinnert an die Befreiung der Bolschewiki in Petersburg im September 1917, als die Kerenskiregierung vom Kornilow-Putsch bedroht wurde).

3 Die Zeitung República und die Einmischung der Arbeiter

Die Spaltung der Militärs zeigte sich auch im Kampf um die Medien, im Fall der SP-nahen Tageszeitung República und beim katholischen Rundfunksender Renascença. Begonnen hatte es bei den Maifeiern, unmittelbar nach den Wahlen vom 25. April. Soares wollte sein 38-Prozent-Stimmpotential in politische Macht umsetzen und drängte auf Gewerkschafts- und Gemeinderatswahlen, wo die KP durch „Präsenz“ und Aktivität ihrer Funktionäre die gesäuberten Gremien beherrscht. Zielrichtung war von Anfang an, nicht von der bourgeoisen PPD, sondern auf Kosten der KP zu gewinnen, indem man die politisch nicht aktiven Wählermassen, die „Schweigende Mehrheit“, in die Waagschale warf. Nach einem Wort des französischen Professors Robert Merle hat die PSP die Stimmen der „klarsehenden Bourgeois und der blinden Arbeiter“ bekommen (Le Monde, 30. Mai 1975).

Soares weigerte sich, die vorgesehenen linkssozialistischen Redner (FSP, MES) auf der gemeinsamen Maiveranstaltung zu akzeptieren, und verlangte sogar einen PPD-Redner. Kompromiß: keine Parteienvertreter sprechen. Im Stadion selbst veranstalteten die Sozialisten eine Protestdemonstration, sie pfiffen und unterbrachen die Rede des Präsidenten Costa Gomes („ihres“ Costa Gomes!) mit dem Sprechchor: „Sozialismus ja, Betrüger nein!!“ Die KP-Ordner hinderten daraufhin Soares am Betreten der Tribüne. Am nächsten Tag konnte die República nicht erscheinen, da sich die Setzer weigerten, die SP-Version zu drucken.

Setzer machen Zeitung:
Die República-Arbeiter am 9. Juli 1975 bei der Herstellung der ersten Nummer ihrer eigenen Zeitung

Es kam zu weiteren Streitfällen. Die KP mochte sich wegen eines Berichts über ihr Vorgehen im Fernsehen ärgern (laut República warf sie ihren Gegnern vor, daß sie Verhältnisse hätten, homosexuell seien usw. — immer vorausgesetzt, die vorgelegten Dokumente sind echt); dann erschien eine Reportage über den Kampf um die Leitung der Metallarbeitergewerkschaft, wo die KP die MES mit Hilfe der Militärpolizei abgewürgt hatte. Die República-Affäre ist aber trotzdem keine KP-Mache, wie die westlichen Medien behaupten — vom 13köpfigen Leitungsausschuß der Arbeiter waren nur zwei Kommunisten. Die Linksgruppen sind stärker vertreten; man könnte die Ereignisse ebensogut als innermaoistischen Streit darstellen, so nämlich, daß die UDP-Anhänger unter den República-Arbeitern böse waren auf einen Bericht über die Chinareise einer AOC-Delegation, der von Peking offiziell anerkannten Gruppe. Dazu muß man ergänzen, daß die SP gerne mit der AOC bzw. PCP/ML ihr linkes Image aufpoliert (die PCP/ML ihrerseits demonstrierte am 23. Juni zusammen mit SP, PPD und den Monarchisten für Pressefreiheit ...).

Weitere Details. In einem Rundschreiben an linke Zeitungen Westeuropas machten die República-Arbeiter bekannt, es sei Druck auf Betriebsangehörige ausgeübt worden, die Kündigung einzureichen; 14 linke Journalisten hätten die Zeitung verlassen. Andererseits habe die Friedrich-Ebert-Stiftung der SPD ein Hilfsangebot über 130.000 DM gemacht (links, Juni 1975). Die Auflage war nämlich auf weniger als die Hälfte gefallen, die Zeitung defizitär, es bestand Gefahr für die Arbeitsplätze. Die República, unter dem Faschismus das einzige liberale Blatt, war von den anderen Zeitungen links überholt worden und sah sich in die Ecke der „historischen Republikaner“ gedrängt. Die SP selbst forçierte schließlich zusammen mit dem Unternehmerverband CIP das Jornal Novo als moderne Alternative zu dem altmodischen Essayistenblatt República (CIP-Generalsekretär Morais Cabral sieht sich als Sozialdemokrat im Sinne von Soares).

Fazit: Die Arbeiter setzten den Chefredakteur Raul Rêgo am 19. Mai ab. Rêgo, erster Informationsminister der Revolution, stellte einen Verstoß gegen das von ihm selbst erlassene Pressegesetz fest und sperrte die Arbeiter aus. Die Schließung und Räumung der Druckerei erfolgte nach Vorsprache der sozialistischen Minister beim Staatspräsidenten auf Anordnung des „gemäßigten“ Informationsministers Jesuino. Die SP-Minister nehmen daraufhin ihre Rücktrittsdrohung zurück. Am 16. Juni übergibt das COPCON aber den Arbeitern die Schlüssel der Druckerei; die Redakteure werden nicht eingelassen.

Die República wird von den Redakteuren mittlerweile als Jornal do Caso República herausgegeben. Die Nummer 7 vom 21. Juni ist identisch mit der Beilage, die am 23. Juni im Quotidien de Paris erscheint und die das gefälschte Ponomarjow-Dokument enthält (siehe Kasten S. 50). Das Jornal do Caso República wird in der Druckerei der Diözese Coimbra hergestellt, wo zwei Priester bei der Herstellung des Blattes ministrieren (Politique hebdo, 10. Juli 1975). Zum Dank unterstützt Soares die Forderung nach Rückgabe des Senders Renascença (Wiedergeburt) an den faschistischen Episkopat.

Die Arbeiter lassen „ihre“ República seit dem 10. Juli wieder erscheinen (Nachdruck der ersten Nummer in Lotta Continua, 12. Juli 1975). — Die Lehre aus der Affäre ist neu, wiewohl sie sich in Frankreich in den Kämpfen um der Parisien Libéré und das rechte Wochenblatt Minute schon angekündigt hatte: Während bei uns die Journalisten noch mit Redaktionsstatuten um ihre ständische Freiheit vom Eigentümer kämpfen, mischen sich in Südeuropa schon die Arbeiter ein. Da hört sich natürlich die Pressefreiheit auf!

Fatima-Wunder: Weißer Terror

Der Sender Renascença wurde am 26. Mai von den Mitarbeitern besetzt. Dort herrschte der alte Geist noch ungebrochen, die Redakteure durften seinerzeit nicht einmal über die Rückkehr Soares’ und Cunhals nach Portugal berichten. Dem „gemäßigten“ Informationsminister Jesuino allerdings erscheint die Besetzung nur eine „Sache der Polizei“, er bekräftigt das Eigentumsrecht des Episkopats. Das COPCON wiederum stellt sich auf die Seite der Besetzer und verweigert die Durchführung der Anordnung (Le Monde, 20. Juni). Der Sprecher der Sozialistischen Partei Soto Mayor Cardia erklärte, zur Religionsfreiheit gehöre auch das Recht der Kirche, Kommunikationsmittel „für ihre Ziele einzusetzen“ (Frankfurter Rundschau, 20. Juni). Am 2. Juli beschloß die Regierung, den Sender an die Bischöfe zurückzugeben, aber die Arbeiter befolgten die Weisung nicht, und das COPCON griff nicht ein.

An der Staatsspitze gibt es Anfang Juli Signale einer Rechtswendung. Der kommunistische Postminister wendet sich gegen einen Telefonistenstreik, bei dem das COPCON erstmals wieder gegen die Arbeiter eingreift. Während ein Soldatenkongreß des Landheeres „energische Maßnahmen“ der Revolution verlangt, sagt Costa Gomes am 4. Juli: „Die Wirtschaftskrise verlangt mehr Arbeit und weniger Parolen. Wir reden zuviel und arbeiten zuwenig.“ Man sieht Carvalho im Gespräch mit den „Gemäßigten“ Melo Antunes, Vitor Alves und Vitor Crespo. Admiral Crespo war letzter Gouverneur von Mozambique und ist als Nachfolger von Gonçalves im Gespräch. Die KP sieht die Gefahr eines Staatsstreichs heraufziehen und mobilisiert ihre Anhänger. Soares erkennt seine Chance und verkündet am 6. Juli, die SP sei bereit, „das Land zu lähmen“, wenn man ihr die República nicht zurückgäbe.

Die Krise löst sich mit dem Beschluß der Generalversammlung der MFA am 9. Juli, sich einen zivilen Arm zuzulegen: „Basiskomitees“, die in „Volksversammlungen“ durch „Handaufheben“ gewählt werden sollen. Am 10. Juli tritt die SP aus der Regierung aus, vorgeblich wegen der República-Angelegenheit, in Wirklichkeit, weil sie im Rätesystem keine Chance für sich sieht. Der Revolutionsrat erklärt am 12. Juli, daß die Sozialisten ein „Manöverfeld für konterrevolutionäre Aktionen“ bereiten. In seinem Demissionsbrief an den Staatspräsidenten beklagt Soares „die allgemeine Krise der Autorität des Staates, die zersetzt wird durch Demagogie, Unverantwortlichkeit und Anarcho-Populismus“ (Le Monde, 13. Juli). Daraufhin startet der SP-Chef die Julioffensive gegen MFA und KP, im Bündnis mit den bürgerlichen Parteien und der Kirche.

Die Sammlung der „Schweigenden Mehrheit“ beginnt im kleinbäuerlichen Norden des Landes, wo die Pfarrer noch das Wort führen und die Kirche eine Macht ist. Am 13. Mai, dem Jahrestag von Fatima, wo 1917 die Bekehrung Rußlands von Kommunismus und Orthodoxie verkündigt worden war, hatte der Wiener Kardinal König die Messe vor den Pilgern zelebriert; er offenbarte, daß sich die Kirche in dieser Zeit „dem Haß, der Unordnung und großer Verwirrung gegenübersieht“ (Le Monde, 18. Mai). Auf der Kundgebung in Aveiro am 13. Juli sammelte sich zur Begrüßung des aus Rom zurückkehrenden Bischofs Almeida zum ersten Mal die „Schweigende Mehrheit“. Zur gleichen Zeit wurde in der Landstadt Rio Maior eine kommunistische Bauernversammlung gesprengt,“ das KP-Parteibüro gestürmt, Bücher und Schriften auf der Straße verbrannt. Zur gleichen Zeit erklärte im Fernsehen eine Diskussionsrunde von „gemäßigten“ Militärs mit Admiral Vitor Crespo und MFA-Sprecher Vasco Lourengo, die Verwirklichung des Projekts der Volksorganisationen könne sich noch zehn oder zwanzig Jahre hinziehen ... (Le Monde, 16. Juli).

Am 15. Juli demonstrierten in Lissabon die Rechten erstmals offen mit Soares an der Spitze (15.000). Tags darauf die Linken mit den Ralis vornweg, angeführt von Dinis de Almeida (8.000). Während Soares sich in Porto am 18. Juli einer reaktionären Masse (Rufe: „Tötet Cunhal!“) als Portugals Noske präsentiert, steht die KP mit dem Rücken zur Wand und sieht sich von den Linken verlassen: ihr Aufruf, durch Barrikaden den Zugang zur Stadt zu verlegen, war von den linken Organisationen zurückgewiesen worden, die Arbeiter gingen nicht hin, die Rechten gingen einfach vorbei (die KP war zu schwach, die Sperren zu verteidigen), und das COPCON befahl sogar den Abbau von Barrikaden. Nachher das übliche Freudenfeuer mit KP-Kiosken. Am Samstag, den 19. Juli in Lissabon ein ähnliches Bild. Soares fordert den Rücktritt von Gonçalves. Also einen Putsch. Carvalho fährt in diesen Stunden nach Kuba. Ist die Revolution nicht in Gefahr? Vielleicht würde er auch den Rechten dienen. An jenem Wochenende fordert der weiße Terror die ersten Opfer. Die MFA-Generalversammlung setzt am 25. Juli ein Dreier-Direktorium ein: Costa Gomes/Gonçalves/Carvalho ...

Wird er Portugals Bonaparte?
Otelo Saraiva de Carvalho, 38, geb. in Mozambique

Wird Soares Portugals Frei? Kommt Chile, Bonaparte oder Rätesystem?

Die wirtschaftliche Lage läßt nicht viele Möglichkeiten offen. Die MFA selbst hat in ihrem Dokument vom 21. Juni bekannt, daß das Bruttosozialprodukt 1975 um sechs Prozent zurückgehen wird. Die Arbeitslosigkeit beträgt eine Viertelmillion (acht Prozent der Erwerbstätigen), andere sagen sogar mehr. Die Inflation hält bei 7,8 Prozent pro Monat (Nouvel Observateur, 23. Juni 1975), die Gold- und Devisenreserven gehen dieses Jahr zu Ende. Nur eine strikte Devisenbewirtschaftung, ein staatliches Außenhandelsregime und ein kohärentes inneres Wirtschaftssystem können die Krise lösen.

Wie aber soll das aussehen? Ist nicht die Industrie nach der Nationalisierung der Banken sowieso zu 80 Prozent verstaatlicht? Das gilt theoretisch — wenn man vom Auslandskapital absieht, das bis jetzt nicht angetastet wurde. In Wirklichkeit gibt’s zu viele lose Fäden. Die Bourgeoisie wehrt sich mit den klassischen Mitteln des Investitionsstreiks und der Kapitalflucht. Die Inflation hat die Errungenschaften des ersten Revolutionsjahres entwertet. Die Mittelklassen werden rebellisch, die Arbeiter passiv. Eine chilenische Szenerie zieht herauf. Die Lösung kann nur ein zentraler Wirtschaftsplan bei gleichzeitiger Arbeiterselbstverwaltung in den Betrieben bringen. Der Schlüssel dazu ist die politische Macht. Wer wird sie erringen, wie wird sie aussehen?

Es gibt drei Möglichkeiten, die drei außenpolitischen Konstellationen entsprechen:

  1. Räteregierung: Räte gibt’s zwar schon, auch Verbindungsorgane, aber es ist noch nicht der richtige Schwung drin. Man muß bedenken, daß in Portugal der Kleinbetrieb bis fünf oder zehn Arbeiter vorherrscht, es gibt nur wenige Dutzend Fabriken mit mehr als tausend Arbeitern. Nach den bisherigen Erfahrungen könnte ein Angriff der Rechten, vorausgesetzt, die Linken besiegen ihn, einen großen Aufschwung bringen. Die portugiesische Arbeiterklasse ist militanter als die chilenische, ihre Organisationen besser bewaffnet und das Militär jedenfalls nicht ungebrochen im Kern reaktionär. Entscheidend ist auch das Verhalten Spaniens und Südeuropas: wird die Revolution außen permanent, dann auch innen.
  2. Spinolismus: Die rechte „chilenische“ Lösung ist unwahrscheinlich, weil gegenwärtig die Industriegebiete und der Süden zu gut links organisiert sind, da hat die Arbeiterklasse noch Reserven. Es könnte sich höchstens im Norden eine Putschregierung der Kaziken und rechten Garnisonen bilden, die nach Francos historischem Muster einen Bürgerkrieg versucht, mit ausländischer Intervention und allem, was an ELP und CIA dazugehört. [**] Das kann aber für Franco und die Amerikaner nach hinten losgehen, wie das Beispiel Zypern gezeigt hat: wie die griechischen Obersten stürzten, als sie ihre Herrschaft auf Zypern auszudehnen versuchten, so könnte auch der spanische Faschismus in den Abgrund gerissen werden, wenn er in Portugal interveniert.
  3. Bonapartismus: Gegenwärtig zeichnet sich eine mittlere Lösung ab, deren Struktur aber noch offen ist. Wieviel basisdemokratisches Eigenleben die Räteorganisation gewinnt, die von der MFA jetzt aufgebaut wird, hängt von der Stärke der Arbeiter ab. Als Bündnispartner bleiben dem portugiesischen Bonaparte — nach dem Nein der EG — nahöstliche Ölproduzenten (Boumedienne, Gaddafi) sowie die Sowjetunion, was innenpolitisch einer Integration der KP entspricht.

(25. Juli 1975)

[*Die COPCON-Truppen, vor einem Jahr gegründet, sind das ständige politische Interventionsinstrument der MFA; sie umfassen rund 7.000 Mann aus zehn verschiedenen Truppenteilen, die hauptsächlich in und um Lissabon stationiert sind.

[**Für den Putsch am 11. März 1975 war eine US-Intervention vorbereitet: Der spanische Journalist Frederico Villagran berichtete im Correro de Andalucia vom 25. März, daß ein Interventionskorps von 7.000 US-Marinern am Abend des 10. März auf dem spanischen Luftstützpunkt Rota bereitstand. Es sollen „Chicanos“ gewesen sein. Von politischen Gefangenen in Spanien erfuhr man, daß die Regierung in spanischen Gefängnissen portugiesische Uniformen nähen ließ ...

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