MOZ, Nummer 50
März
1990
Argentinischer Staatsbankrott:

„Blut, Schweiß und Tränen“

5.000% Inflation haben in Buenos Aires sechs Wirtschaftsminister innerhalb von fünf Monaten verbraucht. Die kleinen Leute bleiben physisch auf der Strecke. In Argentinien herrscht Krieg. Ohne Panzer und Gewehre, aber ebenso brutal.

Schaufenster mit den neuesten Lottoergebnissen in einer Fußgängerzone in Buenos Aires

„Zwei Nachrichten, eine gute und eine schlechte“, kündigte der immerwache Schwarze Humor von Buenos Aires vorigen Jahres an: „Die gute: 1989 ist vorüber. Die schlechte: 1990 steht bevor ...“ Nichts spiegelt wohl besser die Stimmung am Anfang dieses Jahrzehnts wieder, das für Argentinien äußerst turbulent zu werden verspricht.

Endlose Schlangen vor Banken, Wechselstuben und Tankstellen, Käufersturm auf Supermärkte: Die typischen Straßenszenen dieser tristen Jahrzehntwende sind der desillusionierten Bevölkerung schon vom katastrophalen Vorjahr in bester Erinnerung. Die Argentinier und Argentinierinnen sind in der Tat seit langem an Inflationsraten von über 100% jährlich, Stagnation und Rezession, entfesselte Finanz- und Devisenspekulation gewöhnt und kennen die unfehlbare Grundformel der Dauerkrise, den Tango der nationalen Dekadenz:

Verschärfte soziale Spannungen = erhöhte wirtschaftliche Nervosität = Dollarkursanstieg = beschleunigte Inflation mit allgemeiner, oft sprunghafter Teuerung, Hamsterkäufen und z.B. der nächsten saftigen Benzinpreiserhöhung, mit der umso sicherer zu rechnen ist, desto entschiedener sie von den Verantwortlichen der Regierung dementiert wird. Die Hintergrundmusik dazu ist das interessanterweise supermodern gewordene alte Louis Armstrong-Lied „What a wonderful world“.

Wechselstube als Tollhaus

Hochsaison haben dann neben Finanzberatern und Spekulanten aller Art auch gewisse Gelegenheitsarbeiten, wie Waren in den Supermärkten neuzuetikettieren oder für andere irgendwo Schlange zu stehen, sei es in den zum Tollhaus gewordenen Wechselstuben, wo sich die Leute um die begehrten grünen Banknoten raufen, die binnen weniger Stunden um 10 oder 20% steigen — oder gelegentlich auch fallen — können, oder sei es in einer weniger aufgeheizten Atmosphäre.

Warum aber die Schlangen vor den Banken, die oft um einen halben Häuserblock reichen, obwohl hier gar keine Dollar zu kaufen sind, und in denen jeder in der Sommerhitze bei 35 Grad im Schatten mehrere Stunden verliert, gelegentlich auch ein weniger Ausdauernder das Bewußtsein? Die Ursache besteht zum einen in den überholten bürokratischen Praktiken, die schon an sich die Auszahlung von Pensionen oder die Bezahlung von Gas-, Strom- oder ähnlichen Rechnungen zu einer zeitraubenden Angelegenheit machen; sie wird aber auch verschärft durch die chaotische Wirtschaftslage, die die seit Juli amtierende Regierung wie ihre glücklose Vorgängerin immer wieder zu recht ungewöhnlichen Maßnahmen greifen läßt: Um die entfesselte Finanz- und Dollarkursspekulation einzudämmen, werden kurzerhand die Banken und Wechselstuben von Amts wegen geschlossen, die Regierung dekretiert einen Tag „feriado bancario y cambiario“, manchmal auch gleich zwei, drei und mehr hintereinander. Am Tag der wiedereröffneten Schalter ist dann verständlicherweise erst recht der Teufel los, in der Zwischenzeit aber haben sich die immer zahlreicher werdenden „arbolitos“ (Bäumchen) — wie man die Schwarzmarkt-Devisenhändler auf der Straße nennt — ein bißchen die Hände reiben können ...

Chirurgischer Eingriff ohne Narkose

Im Jahr 1989 mit seinen zwei Dutzend „Bankfeiertagen“ hat die nationale Währung, der Austral, so über 99% ihres Wertes in Devisen verloren: In nur 11 Monaten ist der Dollarkurs von 18 auf fast 2.000 gestiegen. Die Inflation hat alle Rekorde gebrochen und offiziell fast 5.000% erreicht, in Wirklichkeit sicher noch um einiges mehr. Für das Bruttoinlandsprodukt rechnet man mit einem Rückgang von 5,5%, der ohne die relativ dynamischen Exporte des Vorjahres noch viel dramatischer gewesen wäre, und die Bruttoinvestitionen sind von ihrem bereits vorher sehr niedrigen Niveau — um die 12% des BIP, mehr oder weniger ein negativer Weltrekord — noch um 30% gefallen, während einige weitere Milliarden Dollar aus dem deprimierten Land am La Plata in sichere Häfen wie New York und Zürich flüchteten. Der Wirtschaftskollaps Mitte 1989 zwang den glücklosen und oft recht ungeschickten Präsidenten Alfonsin zu einer unrühmlichen vorzeitigen Machtübergabe an den neugewählten Nachfolger, den Peronisten Carlos Menem, der in seiner Antrittsrede vorausschauend in Churchill-Manier „Blut, Schweiß und Tränen“, genauer „eine schwere chirurgische Intervention ohne Narkose“ versprach, um die schwere Krise — zu dieser Zeit mit einer monatlichen Inflationsrate von über 100%, also im Jahresrhythmus um die Million Prozent (!) — einzudämmen. Das gelang anscheinend recht gut in den ersten Monaten, mit monatlichen Inflationsraten unter 10% von September bis November, für argentinische Verhältnisse wenig. Aber schon im Dezember war die Schonfrist für den neuen Präsidenten vorüber und der alte Teufelskreis ging wieder los, mit bedeutenden Streikbewegungen, Dollarkursanstieg, Inflationsbeschleunigung usw. Mitte Dezember trat ein neuer Wirtschaftsminister — der sechste in neun Monaten! — sein Himmelfahrtskommando an, und sein erster Stabilisierungsplan schlug sogleich derart drastisch fehl, daß nach wenigen Tagen ein völlig anderer in Gang gesetzt werden mußte. Fünf Monate nach seinem Amtsantritt hatte Carlos Menem sichtlich ebenso viel Glaubwürdigkeit verloren wie Alfonsin nach fünf Jahren und dreizehn Generalstreiks: Seine widersprüchliche Wirtschaftspolitik — auf der Grundlage einer engen Allianz mit den großen Wirtschaftsgruppen, insbesondere mit der einzigen großen argentinischen multinationalen „Bunge y Born“ —, hatte zu etlichen wichtigen Umbesetzungen von Spitzenpositionen geführt. Ende 1989 gab es daher bereits je den dritten Zentralbankchef, Wirtschafts- und Sozialminister — der erste Wirtschaftsminister war nach nur sechs Tagen im Amt an Herzinfarkt gestorben, der erste Sozialminister durch einen Flugzeugabsturz — und die meisten Staatssekretäre waren auch nicht mehr die selben wie im Juli.

Hebe de Bonafini, die Präsidentin der „Madres de la Plaza Mayo“, bei einer Kundgebung

Konfiszierte Bankguthaben

Anfang Januar gab es eine interessante Neuorientierung der allzu sprunghaften Wirtschaftspolitik, einen Schlag gegen die „patria financiera“, wie man ironisch die alles andere als patriotische Finanzoligarchie nennt, die das Land seit Jahren ruininiert. Nachdem in Verbindung mit dem neuerlich rasanten Dollarkursanstieg auch die Bankzinsen wieder ein ausgesprochen schwindelerregendes Niveau von bis zu 600% monatlich (!) erreicht und damit jeglichen Kredit für produktive oder ‚normale‘ Zwecke unmöglich gemacht hatten, wurden die hochverzinsten Bankguthaben zum Teil konfisziert bzw. mit abgewerteten Staatsscheinen zurückgezahlt. Es war sicher die einzige Möglichkeit, die immer explosivere Zeitbombe einer enorm gewachsenen Binnenschuld zu entschärfen, die u.a. im Zusammenhang mit der astronomischen Außenverschuldung und der finanziellen Strangulierung des Landes durch Währungsfonds und Gläubigerbanken in den letzten Jahren entstanden war. Aber die Maßnahme wirft neue Fragen über die Glaubwürdigkeit des argentinischen Staates auf.

Wie wird nun dieser Schlag von den Betroffenen empfunden, der erste in gewisser Sicht, der nicht gegen die ‚Kleinen‘ gerichtet ist? Für die größten Spekulanten ist er wahrscheinlich nur ein Schlag ins Wasser, weil sie wohl ihre Schäfchen schon vorher ins Trockene gebracht haben, ins Ausland oder in Dollar. Dramatisch allerdings ist er für all diejenigen, die dem Staat trotz allem vertraut haben und jetzt plötzlich um einen beträchtlichen Teil ihrer Ersparnisse gebracht worden sind. Und das sind bestimmt nicht so sehr nur die professionellen Spekulanten, sondern eher ‚Leute wie du und ich‘, Angehörige der immer noch existierenden und Monat für Monat schwerer überlebenden Mittelschichten, ja einfachste Leute wie Arbeiter und Angestellte, die soeben ihren Job verloren haben und ihre Abfindung vor der galoppierenden Inflation schützen wollten, oder sonstige ‚normale‘ Leute, die eben über einen gewissen Betrag verfügt und diesen zum gleichen Zweck für eine Woche in eine hochverzinste Bankeinlage verwandelt hatten, in der Hoffnung, damit dem Preisauftrieb ein Schnippchen zu schlagen ... Auf jeden Fall gibt es etliche neue Selbstmordkandidaten, Diskussionen über ‚Ausnahmen‘ und neue Aufgaben für besonders kämpferische Angehörige des hier wie überall in Lateinamerika übergroßen Advokatenheeres. Und wenn der Dollar vorübergehend deutlich gesunken ist, so hat das im wesentlichen nur damit zu tun, daß auf Grund der Maßnahme viel zu wenig Australes im Umlauf sind, um sie zu kaufen; die Unternehmer konnten nicht die Löhne und Gehälter zahlen, die Kaufleute nicht ihre Lieferanten usw., die meisten konnten Anfang Januar 1990 nicht die gewohnten Sommerferien antreten — nur der Lieblingsstrand der Schickeria von Buenos Aires, Punta del Este in Uruguay, hatte Hochsaison, im proletarischen Super-Rimini Mar del Plata dagegen waren die Strände fast leer.

Peronistisches Parteilokal in einem kleinen Dorf in der Provinz Salta

„Esto es un quilombo“, das ist ein totales Chaos, pflegen die Argentinier zu klagen, wobei „quilombo“ ein Wort aus Brasilien ist, das ursprünglich hier als Bordell, heute als völliges Chaos verstanden wird, im Ursprungsland während der Kolonialzeit jedoch als Bezeichnung für die Gruppen geflohener Negersklaven verwendet wurde. Noch vor 40 Jahren war die argentinische Industrieproduktion fast ein Drittel ganz Lateinamerikas, die von Brasilien hingegen nicht einmal ein Viertel; heute beträgt die brasilianische über zwei Fünftel davon, die argentinische aber nicht einmal mehr ein Zehntel. Und was die Brasilianer, bei all ihren explosiven Problemen, besonders fürchten in diesen Zeiten der Hyperinflation und der sozialen Spannungen, das beschreiben sie mit einem bezeichenden Wort: „argentinizacao“, Argentinisierung ...

Abenteuersafari in die Krise

(aus „Clarin“, argentinische Tageszeitung in Buenos Aires, 6.1.1990)

Nach einer richtigen Abenteuerreise fragt der gelangweilte Yuppie in einem europäischen Reisebüro. Nase voll von Ibiza, Paris, New York, den griechischen Inseln, es soll was Exotisches, was ganz anderes sein! Safari in Katanga, 14 Tage mit einem Eingeborenenstamm in Madagaskar, eine Woche tiefe Meditation mit tibetanischen Mönchen, ein Kamelritt durch die Westsahara mit der Polisario, nichts will ihn so recht begeistern. Aber wie wär’s, fragt der Angestellte, mit etwas ganz Besonderem: einen Monat lang wie ein Argentinier in Buenos Aires leben, mit rund 200 Dollar?

— „... also man muß mit wenig Geld auskommen?“, meint der Kunde.

„Ja, aber das ist erst ein Teil des Abenteuers. Außerdem müssen Sie dauernd auf der Hut vor allen Neuigkeiten sein. Irgendwann spricht plötzlich der Wirtschaftsminister über alle Fernseh- und Radiostationen, und alles wird umgedreht. Die Australes — die argentinische Währung — können von heute auf morgen wertloses Papier werden — oder auch eine Art von Kultgegenstand. Der Dollar steigt fast immer, aber manchmal sinkt er auch. Die Produkte verschwinden vom Markt und tauchen plötzlich wieder auf. Das passiert z.B. mit Benzin: Jedes Mal, wenn ein Gerücht eine Preiserhöhung ankündigt, belagern die Autofahrer die Zapfsäulen, dann gibt es enorme Schlangen und sie können gerade sieben oder acht Liter tanken. Aber dann kann man ruhig volltanken, allerdings um 100, 150% teurer.“

— „Natürlich, wenn das Abenteuer mir zu bunt wird, kann ich ja immer noch zur Bank gehen und ...“

„... sofern es nicht gerade einen feriado bancario gibt, also die Banken von Amts wegen geschlossen sind, wie das in letzter Zeit recht häufig ist, und was mehrere Tage dauern kann. Und dann, die Schlangen ...“

— „Aber sagen Sie mir bloß, diese Leute müssen ja verrückt werden bei jeder neuen Ankündigung, oder?“

„Sicher, aber noch mehr bei jedem Dementi. Es kann vorkommen, daß ein hoher Beamte etwas ankündigt und ein anderer ihn nach wenigen Stunden dementiert. Wissen, was zu tun ist, ist ein Problem der Interpretation. Wie ich Ihnen schon gesagt habe, es handelt sich um ein Land mit unentwegter Kreativität: Nicht nur ist es nötig, Zauberkunststücke zu machen, um einigermaßen zu verdienen, sondern man muß vermeiden, daß sich alles wieder in riskanten Finanz-Pirouetten auflöst wie im Nebel. Alle machen in diesem Spiel mit: Hausfrauen, junge Leute, Rentner ...“

— „Da muß man wohl recht viele Tabletten gegen Kopfschmerzen nehmen!“

„Wenn Sie sie kriegen. Viele Apotheken schließen, die Laboratorien liefern ihre Produkte nicht, die importierten Medikamente können an einem Wochenende auf den dreifachen Preis steigen ...“

Obwohl es, wie der Angestellte versichtert, doch auch gute Nachrichten in diesem eigenartigen Land gibt, so z.B. daß es in diesem Sommer, wenn nichts dazwischen kommt, nicht wie im letzten tägliche Stromrationierungen geben wird, zeigt sich der Kunde zu stark verunsichert. Am Schluß entscheidet er sich doch für den dreiwöchigen Aufenthalt bei einem Kopfjäger-Stamm in Amazonien ...

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