Streifzüge, Heft 1/1996
März
1996

Berginhalte statt Plattformen

Zwölf Thesen zu Lage und Perspektive der österreichischen Linken

1.

Die österreichische Linke ist theorielos. Sie liest zu wenig, sie weiß zu wenig, sie denkt zu wenig. Sie ist nicht kopflastig und praxisfern, sie ist bauchlastig und praktizistisch. Gleich den Grü­nen dominiert auch hier der moralische Prakti­zismus das Engagement der Verbliebenen. Sie ist — und das zeigen auch viele Papiere des Dialogs — befangen in bürgerlichen Kategorien, die wider die bürgerliche Realität beschworen werden. Das mag einmal up to date gewesen sein, heute wirkt es hilflos, lächerlich und vor allem stocklang­weilig. Von der Demokratisierung bis zu den Arbeitnehmerinnen jagt ein falscher Begriff den nächsten. Die größte Gefahr scheint heute darin zu liegen, daß sich hier ein linkssozialdemokra­tisches Projekt der biederen Sorte ankündigt. Es geht also überhaupt nicht darum, die letzten Auflinken als Veteranen und Meldereiter für eine bes­sere Zukunft zu versammeln, gemeinsam die Wunden lecken und die Schlechtigkeit der Welt beklagen. Wenn die alte neue Linke nicht trans­formiert werden kann, dann stirbt sie unweiger­lich ab.

2.

Ein falscher Konsens ist Nonsens. Wir sind in einer Phase, wo inhaltlich alles offen ist. Was an traditionellen Vorstellungen Bestand hat, muß sich erst in seiner Güte beweisen. Es gibt keine unumstrittenen Essentials, und niemand sollte so tun, als sei ein tragfähiger gemeinsamer Boden­satz vorhanden. Den gilt es erst zu erarbeiten. Wer sich zusammensetzt, muß sich freilich auch auseinandersetzen. Es geht also nicht an, Diffe­renzen in Besänftigungen und Beteuerungen zu ersticken, Inhalte in gewohnter Manier auf den faden kleinsten gemeinsamen Nenner herunter­zubringen. Es kann also auch nicht ausgeschlos­sen werden, daß wir nicht miteinander können, oder daß wir nicht alle miteinander können, auch wenn das selbstverständlich nicht das vorgege­bene Ziel ist.

3.

Eines der Grundmißverständnisse linker Theo­rie war die metaphysische Trennung von Form und Inhalt. Diese führte dazu, daß die Form als quasi wesenslose Hülle erscheinen mußte, die mit beliebigen Inhalten auszufüllen sei. Das affirma­tive wie leere Verständnis von Politik, Recht, Demokratie oder Staat ist Ausdruck dieser Hal­tung. Diese Begriffe wurden nicht als bürgerliche Realkategorien erkannt, sondern als beliebig ver­wendbar den wildesten Definitionen und Kom­binationen zugeführt. So entstanden Unbegriffe wie sozialistische Demokratie, Arbeiterstaat oder revolutionäre Politik. In der Ontologisierung bürgerlicher Werte und Termini stand die organisierte Linke dem Bürgertum in nichts nach.

4.

Wir sehen es heute nicht mehr als unsere primäre Aufgabe an, eine andere Politik, mehr Demokra­tie, mehr Sozial- oder Rechtsstaat einzufordern. Uns geht es vielmehr gerade um das Aufzeigen der objektiven Begrenztheit dieser Instrumenta­rien, um eine Kritik dieser immanenten, d.h. letztlich bürgerlichen Formprinzipien des Gesell­schaftssystems. Demokratie und Freiheit, Recht und Politik selbst stehen zur Disposition, müssen in die Gesellschaftskritik als allgemeine Grund­lagen, nicht bloß als spezifische Ausformungen miteinbezogen werden. Sie dürfen nicht nur als affirmative Werte eingeklagt und eingemahnt werden. Dies unterstellt ihnen nämlich Lösungs­kapazitäten, die wir mehr als anzweifeln. Die Formprinzipien des bürgerlichen Zeitalters kön­nen nicht beliebig gedreht, gewendet und inter­pretiert werden.

5.

Der Widerspruch Lohnarbeit-Kapital, der immer bloß ein kapitalimmanenter gewesen ist, ist nicht mehr dazu angetan, Theorie und Praxis zu leiten. Daraus aber einen gänzlichen Verzicht auf eine Leitlinie abzuleiten, wäre verkehrt. Heute gilt es, alles an der Wertkategorie zu dechiffrieren, den Widerspruch zwischen Produktionsverhältnissen und Produktivkraftentwicklung, zwischen den materiellen Möglichkeiten der Menschen und den verwertbaren Möglichkeiten des Kapitals, zentral zu thematisieren.

6.

Es geht auch nicht an, sich prinzipiell gegen die laufende Modernisierung zu stellen, es gilt viel­mehr auch ihre progressiven Tendenzen und deren kapitalistische Fesseln aufzuzeigen. Jene ist in ihrer Gesamtheit zu sehen, nicht nur anhand ihrer negativen Erscheinungen. Vor allem gilt es die antikapitalistische Potenz des Kapitalismus zu problematisieren. Der Kapitalismus ist jeden­falls antikapitalistischer als die Linke.

7.

Von der Politik des kleinsten gemeinsamen Nen­ners ist zu einer emanzipatorischen Kommuni­kation des größten gemeinsamen Zählers über­zugehen. Sozialistisches Eingreifen hat sich nicht zu dividieren, sondern zu potenzieren. Das kann nur gehen, indem alle gesellschaftlichen Pro­bleme a priori und a posteriori in eine farbenrei­che, esoterische wie exoterische, alles umfassende Gesellschaftskritik einmünden, die vor allem nicht aus taktischen Gründen entradikalisiert, sondern jene im Gegenteil theoretisch und argu­mentativ zuspitzt. Es darf jedenfalls nicht der kurze Weg der Plattformen gegangen werden. Berginhalte statt Plattformen wollen wir, was meint, daß es gilt, linke Theorie und Begrifflichkeit auf die Höhe ihrer Zeit zu bringen anstatt sich in faden und nichtssagenden Beschwörungs­formeln zu ergehen.

8.

Wir plädieren für eine Radikalisierung, nicht für eine Rabiatisierung der Linken. Kompromißlosigkeit und Zuspitzung sind in der Theorie gefor­dert, nicht jedoch in der Praxis. Letztere wird in vielen Bereichen sogar äußerst behutsam und moderat sein müssen. Als Richtschnur mag gel­ten: Am Ziel festzuhalten, ohne das Maß aus den Augen zu verlieren, das den Weg ermöglicht.

9.

Es geht um die Reetablierung einer Gesell­schaftskritik, um die gediegene Ausarbeitung einer neuen Theorie, die Aufklärung, Marxis­mus, Feminismus dialektisch in sich aufhebt, was aber auch heißt, daß sie all deren Beschränktheiten hinter sich zu lassen und auszuscheiden hat. Die Frage ist nur, ob die Linke diesen Paradigmenwechsel schafft, bevor die Rechte in Form mafiotischer Usurpation den Kapitalismus beerbt, d.h. barbaristische Züge gesellschaftli­cher Kommunikation auch in den Zentren immer mehr um sich greifen.

10.

Was beim Symposium rauskommen soll? - Nun zumindest eine Bestandsaufnahme der beste­henden Kräfte und Anliegen, als auch die For­mulierung einiger kurz- und mittelfristiger Ziele. Dazu wird es notwendig sein, eine arbeitsfähige, d.h. eine mit Kompetenzen ausgestattete Koor­dinationsgruppe für die Zeit nach dem Sympo­sium zu konstituieren. Als vorrangige Aufgaben erscheinen:

  • Organisierung und Strukturierung der inhaltlichen Debatte;
  • Bestandsaufnahme und Koordinierung interessierter Initiativen (Infopool);
  • Erweiterung der Trägerschaft;
  • Regelmäßige Seminare zu verschiedensten Themen;
  • Finanzielle Absicherung der Aktivitäten;
  • Entwicklung formaler Verbindlichkeiten.

Das ist nicht viel, aber es wäre mehr, als wir bis­her hatten.

11.

Auf längere Frist gesehen, geht es aber sehr wohl um die Überwindung der bisher bestehenden, zersplitterten und untauglichen Organisations­formen. Die Vielzahl der Grüppchen ist nämlich primär Ausdruck der Zerissenheit, nicht der Vielfalt mannigfacher Inhalte. Das Zirkelwesen ist mehr hinderlich als förderlich. Die Struktur­frage ist nicht durch die Variante des Bündnis­ses gelöst. Dieses ist bloß eine Zwischenstufe. Diese zu entwickelnde emanzipatorische Kraft kann keine des bloßen Komparativs sein, sie muß wirkliche Alternativen bieten. Will sie nur „mehr“, d.h. „besser“, „linker“, „demokrati­scher“, „sozialer“ oder „ausländerfreundlicher“ zu sein, dann steht eine breite Palette von SOS bis SPÖ, von Grüne bis KPÖ zur Verfügung.

12.

Das neue Projekt kann freilich nicht unabhängig von der gesellschaftlichen und sozialen Bewe­gung etabliert werden. Selbst aus einer konsta­tierten objektiven Notwendigkeit folgt noch keine subjektive Möglichkeit, sehr wohl aber ein Prozeß der subjektiven Ermöglichung. Das Pro­jekt befindet sich gegenwärtig erst im embryo­nalen Stadium. Soll etwas Gescheites heraus­kommen, dann ist es weder ratsam, die Geburt vorzeitig einleiten, noch diese ins Unendliche zu verzögern.