FORVM, No. 106
Oktober
1962

Begegnung mit den Originalen

Aus den Memoiren eines Übersetzers

Den 1896 in Berlin geborenen und 1961 in Paris verstorbenen Hans Jacob als „einen Übersetzer“ zu bezeichnen, ist eigentlich unstatthaft und wird dem Format dieses Mannes — der wie kaum ein zweiter die Kennzeichnung „Sprachgenie“ verdiente — in keiner Weise gerecht. Hans Jacob wurde bereits 1926 auf Veranlassung des damaligen deutschen Außenministers Stresemann als Dolmetscher zum Völkerbund nach Genf berufen, hat von da ab (in der gleichen Eigenschaft) an einer Unzahl internationaler Konferenzen in aller Welt teilgenommen und war zum Schluß Chefdolmetscher der UNESCO in Paris. Daß er eigentlich von der Literatur herkam und als Übersetzer höchstrangiger Autoren — von Diderot bis Pirandello — zeitlebens ein Literat blieb, geht aus seinen demnächst bei Kiepenheuer & Witsch erscheinenden Lebenserinnerungen hervor, aus denen wir hier ein paar Proben zum Vorabdruck bringen.

Anatol France

Jaques Crépet, der Sohn des Baudelaire-Biographen Eugène Crépet, war nach Ende des ersten Weltkrieges der Vertreter des Französischen Roten Kreuzes in Berlin. Er hatte großes Verständnis für meine Liebe zu Frankreich und mein Interesse an französischer Literatur.

„Reisen Sie nach Paris“, sagte Crépet, „ich werde Ihnen eine Empfehlung an Anatole France geben ...“

In Paris stieg ich im Hotel Scribe ab. Auf meine Anfrage hatte mich Anatole Frances Sekretär wissen lassen, daß ich am kommenden Vormittag — es war Sonntag — gegen 11 Uhr willkommen sei. Anatole France wohnte 8, Villa Said in der Nähe der Avenue Foch, die damals noch Avenue du Bois de Boulogne hieß. Ich begann mich um acht Uhr morgens anzuziehen und machte mich nach dem Frühstück auf den Weg. Ein weiter Weg von den Boulevards, die Champs Elysées hinauf. Es war immer noch zu früh, ein strahlender Tag, Juni 1919. Ich mußte auf einer Bank unter einer großen Kastanie fast eine ganze Stunde „verwarten“. Ich hatte keine klare Vorstellung von dem, was ich mir versprechen konnte; zunächst freute es mich, einen so berühmten, legendären Menschen kennenzulernen. Vielleicht würde er mir, um mich zu ermutigen, das Recht zur Übersetzung seines nächsten Buches geben.

Dann war es endlich elf Uhr. Ich läutete, ein Diener in gestreifter Leinenjacke öffnete mir die Tür, ich überreichte meinen Brief und wurde in einen Salon geführt: schöne Stoffe an den Wänden, Antiquitäten, Skulpturen, Bilder, ein großer Renaissancetisch, etwas Museum, aber sehr eindrucksvoll und einschüchternd. So wohnten auch Anatole Frances Romanhelden. An der Wand, wie angeklebt, eine Treppe, die zu einem kleinen Podest vor einer Tür führte.

Nach einigen Minuten öffnete sich oben die Tür. Anatole France, eine schwarze „calotte“ auf dem Kopf, in einem roten Schlafrock, hielt meinen Brief in der Hand und blieb auf dem Podest stehen. Don Quixote en pantoufles. „Mein Freund Creépet schreibt Gutes von Ihnen ... Sie interessieren sich für französische Literatur und wollen Übersetzer werden, oder sind Sie es vielleicht schon?“

„Oui, maitre ...“

Ich spürte es, ich konnte mich gar nicht irren, es war unausbleiblich: er mußte mich jetzt seines väterlichen Wohlwollens versichern, mir seine gesammelten Werke mit Widmung ins Hotel schicken und mir die Übersetzung seines nächsten Buches anvertrauen und mich vielleicht bitten, alle seine Bücher neu zu übertragen.

Vom Himmel kam die Stimme:

„Übersetzen, gut übersetzen ist eine Kunst, eine große Kunst.“ Vage Bewegung mit der sehr schlanken Hand, die den Brief hält.

„Sie tun gut daran, diesen Beruf zu wählen, sehr gut ... ich finde das ausgezeichnet, und ich wünsche Ihnen alles erdenkliche Glück dazu ...“

Ich sah nach oben. Ich sah ihn an. So sieht von unten ein treuer Hund seinen Herrn und Ernährer an, von dem er ein Stück Zucker oder eine zärtliche Geste erwartet, voll grenzenlosen Vertrauens, voll grenzenloser Erwartung, voll grenzenloser Dummheit.

„Au revoir, Monsieur ...“ Eine verabschiedende Geste mit der weißen Fahne des Briefes. Ein eiskalter Blick. Ein gefrorenes Lächeln.

„Merci ... Au revoir, maitre ...“

Und ich stand vor dem Hause der Villa Said und spazierte unter den Kastanien der Avenue du Bois de Boulogne, betäubt und enttäuscht.

Viele Jahre später übersetzte ich die von Paul Gsell gesammelten Gespräche mit Anatole France unter dem Titel „Die Vormittage der Villa Said“. Heinrich Mann schrieb das Vorwort zur deutschen Ausgabe, die im J. M. Späth-Verlag in Berlin erschien. Meine Übersetzung wurde im Jahre 1945 vom Carl-Heinz-Verlag in Nürnberg neu herausgegeben.

Kiepenheuer und Kaiser

Walter Steinthal, der Herausgeber der in Berlin erscheinenden „Deutschen Montagszeitung“, in der mein erster Roman „Das Erlebnis des Adrios Tan“ erschienen war, hatte mich im Frühjahr 1919 einem kleinen, äußerst beweglichen, leicht schielenden Mann vorgestellt: Gustav Kiepenheuer.

In der Folge ist Kiepenheuer mir treu geblieben ebenso wie ich ihm. Ich habe viel für ihn übersetzt. Im Laufe weniger Jahre brachte er folgende Übersetzungen von mir heraus: „Studien“ von Jacques Rivière, „James Ensor“ von Paul Colin, die bereits erwähnten drei Bände Zola-Novellen, „Die geschwätzigen Kleinode“ von Diderot in einer Ausgabe, deren andere Bände von Otto Falke und Alfred Neumann übersetzt waren; und schließlich „Gegen den Strich“ von Joris-Karl Huysmans.

„Kiepe“ trank gern einen guten Tropfen, ließ sich alle paar Jahre scheiden, um eine immer jüngere Frau zu heiraten, reiste gern, begeisterte sich schnell und hatte oft eine unwiderstehliche Leidenschaft für schöne Gegenstände bei anderen. Sah er etwas bei mir, das ihm gefiel, so gehörte es ihm. Dafür durfte ich stets auf Vorschuß rechnen.

Gustav Kiepenheuer hatte seinem Verlag nach den ersten Jahren sehr bald einen Bühnenvertrieb angegliedert. Einer seiner ertragreichsten Autoren und vielleicht auch der bedeutendste war Georg Kaiser, den ich bei ihm kennenlernte.

Kiepenheuer kam oft nach München und stieg im Hotel Regina ab. Er frühstückte im Preysig-Palais oder bei Schleich. Eines Abends gingen wir nach dem Diner in sein Hotel, um ein paar technische Einzelheiten einer bevorstehenden Veröffentlichung zu besprechen.

Nach einer Weile kam Georg Kaiser. Wir waren vier, denn Kiepenheuer war von seiner jungen Sekretärin begleitet, die vielleicht auf dem Wege war, die nächste Frau Kiepenheuer zu werden.

Georg Kaiser war unauffällig und wirkte eher „bourgeois“, wenn man ihn zum erstenmal sah. Sein Gesicht, ja seine ganze Erscheinung war beherrscht von großen blaugrauen Augen, die einen eindringlichen und faszinierenden Blick hatten. Er war das Gegenteil von Pathos oder Geziertheit. Er sagte, was er sagte, sehr ruhig. Es war stets klar, aber ganz anders, als man hätte erwarten können. Man kann vielleicht nicht sagen, daß seine Art zu sprechen „hundeschnäuzig“ gewesen sei, aber sie wirkte immer wie eine kalte Dusche, denn selbst ein normal temperiertes Gespräch bekam sofort „erhöhte Temperatur“ neben seiner eisigen unbestechlichen subjektiven Art, alles zu sehen und zu durchschauen. Bei allem fühlte man die Distanz eines im Grunde schüchternen Menschen, der um keinen Preis wünscht, daß man ihm zu nahe komme oder daß er irgendjemandem zu nahe treten könne. Er schien oft, war aber niemals herzlos.

Kaiser bewohnte damals in der Ainmillerstraße in München eine möblierte Wohnung, die er einem im Fernen Osten reich gewordenen Industriellen abgemietet hatte. In dieser Wohnung wurde seine Tochter Sybille geboren. Dort sah ich ihn ab und zu, wenn er nicht zu mir in die Königinstraße kam. Im Sommer zog er in einen Besitz desselben Industriellen in Feldafing am Starnberger See, wo ich ihn eines Tages mit meiner Freundin Lilli S. besuchte. Kaiser, immer unauffällig und einfach, führte hier das Leben eines Landedelmannes, wenn auch der Bohême-Einschlag nicht fehlte. Ein Butler bediente bei Tisch, aber man hatte das Gefühl, daß Frau Kaiser selbst gekocht hatte und den ganzen Betrieb nicht mochte und am liebsten alles allein gemacht hätte.

Wenige Wochen nach meinem Besuch brach der Skandal aus. Kaiser wurde beschuldigt, sowohl aus der möblierten Wohnung als auch aus dem Landhause am Starnberger See wertvolle Kunstgegenstände und Teppiche, die ihm nicht gehörten, verkauft zu haben. Der Prozeß wie die Untersuchung waren kläglich. Es kam zutage, daß Kaiser die ihm vorgeworfenen Veruntreuungen begangen hatte; er leugnete nicht; es stellte sich heraus, daß er Geldbedürfnisse hatte, die weit über seine sehr bedeutenden Einnahmen hinausgingen und über die er sich in hartnäckiges Schweigen hüllte. Seine Frau hatte ihn nicht eine Sekunde im Stich gelassen. Sie war in Untersuchungshaft gewesen. Jedes einzelne Wort, das sie sagte, entlastete ihn. Er wurde zu einer kurzen, eher symbolischen Gefängnisstrafe verurteilt.

Über die Kaiser vorgeworfenen Tatsachen wußte ich nichts; ich war als Leumundszeuge vernommen worden, hatte aber nichts Entscheidendes aussagen können. Ich habe dann Kaiser eine lange Zeit nicht gesehen. Durch Zufall traf ich ihn wieder. Ich hielt mich bei meinen Verwandten in Westpreußen auf, als ich erfuhr, daß Kaiser sich zur Uraufführung eines Stückes nach Königsberg begeben habe. Nach kurzem Briefwechsel trafen wir einander in Bad Kranz. Kurz vorher war bei O. C. Recht in München meine Rimbaud-Biographie erschienen, Kaiser hatte mir ein paar Zeilen geschrieben. Ich dankte ihm, und wir sprachen über Rimbaud und dessen Schicksal.

„Und Sie verstehen nicht“, sagte Kaiser plötzlich, „was ich getan habe — als Herausforderung — und daß es mir völlig gleichgültig war und ist, daß ich im Gefängnis war?“

„Ich verstehe es. Nur zum Teil. Ich sage mir, ich selbst hätte vielleicht nicht so gehandelt. Es fällt mir schwer, den Zwang, die Notwendigkeit, das Unausbleibliche zu sehen. Mußten Sie revoltieren, war es unumgänglich für Sie, die bürgerliche Welt gerade so und nicht anders herauszufordern?“

„Es war eine Herausforderung, ich hatte ein sehr großes Einkommen aus meinen Stücken, mit Geld hat das gar nichts zu tun ...“

Kaisers Haltung unter den Nazi, die er keine Sekunde auch nur ertragen konnte oder ertragen hat — er starb in der Schweiz, einsam und immer noch verkannt — beweist, daß er noch Schlimmeres auf sich zu nehmen vermochte als eine vielleicht viel zu früh künstlich geschaffene Herausforderung an das bürgerliche Schicksal.

D’Annunzio

Eines Nachts schien mein Bett zu schwanken, als befände ich mich bei Sturm auf hoher See. Ein Erdbeben brachte die ganze Stadt Siena auf die Beine und ins Freie. Ein altes Haus neben San Domenico war eingestürzt, zum Glück waren keine Menschenopfer zu beklagen. Ich konnte nicht wieder einschlafen. Ich nahm den Band einer Voltaire-Ausgabe, die ich in kleinen Oktavbänden bei Hugendubel in München gekauft hatte. Mein Blick fiel beim Blättern auf den Titel „Mon séjour à Berlin. Pour servir à mes Mémoires“. Es handelte sich um Voltaires Pamphlet gegen Friedrich den Großen, mit dem er nach stürmischer Freundschaft gebrochen hatte. Ich las die achtzig oder hundert Seiten wie einen spannenden Roman. Dann raste ich am frühen Morgen auf die Post und sandte zwei Telegramme, eines an einen Freund in Berlin, das andere an einen Freund in München mit der Bitte, mir zu drahten, ob es bereits eine deutsche Ausgabe dieser Voltaire-Memoiren gebe. Ohne die Antwort abzuwarten, machte ich mich, auf Quartbogen, an die Übersetzung. Am übernächsten Tage hatte ich die Antwort: nein, eine deutsche Ausgabe dieses Werkes von Voltaire existierte nicht, bestimmt keine Einzelausgabe.

Ich arbeitete Tag und Nacht; in sehr kurzer Zeit war das Manuskript fertig. Ich schickte es an den O. C. Recht Verlag, erhielt die Mitteilung, meine Idee fände Beifall: das Buch würde sofort in Druck gehen. Es erschien überraschend schnell. Ich erhielt einen ansehnlichen Vorschuß, und als ich nach München zurückkehrte — ich hatte mir, ohne Geldsorgen, reichlich Zeit gelassen — war „Mein Aufenthalt in Berlin“ von Voltaire mit einem Vorwort von Ludwig Rubiner im 10. bis 15. Tausend.

Kurz nach meiner Rückkehr nach München ging ich eines Abends in ein Restaurant in der Barerstraße, die „Akropolis“. Es war ziemlich besetzt, ich sah keinen freien Tisch mehr. An einem Tisch saß ein Herr allein, er schien auf das nächste Gericht zu warten, und las — das Buch stand aufgeschlagen vor ihm, man konnte das Gesicht des Lesers nicht sehen — „Mein Aufenthalt in Berlin“. Als ich den Fremden fragte, ob ich an seinem Tisch Platz nehmen dürfe, sank das Buch flach auf den Tisch: ich sah einen etwas verfetteten Cäsarenkopf mit sehr eindringlichen Augen mir kurz zunicken. Dann verschwand er wieder hinter „meinem“ Buch.

Ich gab dem Kellner meine Bestellung, dann hielt ich es nicht mehr aus.

„Entschuldigen Sie bitte“, sagte ich, „ich habe Sie gebeten, mich an diesen Tisch setzen zu dürfen, weil es mich interessiert, daß Sie gerade dieses Buch lesen.“

„So“, wieder der Blick, aber eher amüsiert, „das freut mich, denn ich bin der Verleger des Buches.“

„O. C. Recht. — Und ich bin der Übersetzer.“

„Hans Jacob“, sagte O. C. Recht, und so machten wir Bekanntschaft, indem er mich und ich ihn vorgestellt hatte.

Wir tranken einen sehr guten Tropfen, und ich hatte eine Menge Verlagsideen. Plötzlich sagte ich:

„Warum nicht Gabriele d’Annunzio? Seine Werke oder wenigstens die bekanntesten Romane sind vor dem Krieg bei S. Fischer erschienen. Sein Übersetzer war Gagliardi. Warum sich nicht direkt an d’Annunzio wenden?“

Der Krieg hatte so törichte nationalistische Anwandlungen auf dem Gebiet aller Literaturen mit sich gebracht, daß man sich ohne jede Schwierigkeit vorstellen konnte, d’Annunzio habe in Deutschland keinen Verleger mehr.

„Nicht schreiben. Fahren Sie hin! Sie wissen ja, daß er jetzt in der Nähe von Gardone wohnt.“

Recht ließ mich nicht zu Wort kommen. Schließlich war er damit einverstanden, daß ich vor der Abreise wenigstens schriftlich anfragen sollte, um die Reise nicht vergeblich zu unternehmen. Ich eilte nach Hause und schrieb noch in derselben Nacht an Gabriele d’Annunzio, ich hätte den Wunsch, sein letztes Werk „Notturno“ zu übersetzen.

Nach Wochen läutete es eines Tages ziemlich früh am Vormittag in meiner Wohnung. Mein Diener Becker kam ins Schlafzimmer und sagte, ein großer schlanker Herr in Lederjacke, mit einem Fliegersturzhelm über dem Arm, habe meinen Namen geäußert, aber weiter habe er nichts verstanden, denn der Herr spreche nicht deutsch.

Ich bat, den Unbekannten in mein Arbeitszimmer zu führen, und nach wenigen Minuten war das Geheimnis enthüllt: Gabriele d’Annunzio hatte in seinem Privatflugzeug seinen Freund und Fiume-Mitkämpfer Dr. Bortolani als „Kurier“ zu mir geschickt mit einem „Handschreiben“, das mich als d’Annunzios Gast nach Gardone einlud.

Recht lebte damals in Augsburg. Ich erreichte ihn telephonisch. Ich gab Bortolani, der sofort zurückfliegen wollte, das Versprechen, am Abend abzufahren.

Die Szene war echtester d’Annunzio. Der Dichter, der seinem Vaterland auf eigene Faust eine Provinz erobert hatte, trat wie ein Souverän auf. Und damals war ein Privatflugzeug eine außerordentliche Seltenheit. Gabriele d’Annunzio, sehr populär, auf dem Gipfel seiner Berühmtheit, hatte die während des Krieges von der italienischen Regierung sequestrierte Villa des Kunsthistorikers Henry S. Thode in Gardone am Gardasee einfach mit Beschlag belegt. Um diese Villa hat d’Annunzio später das sogenannte „Vittoriale“ gebaut: im Park wurde die Hälfte eines Schlachtkreuzers mit Kommandobrücke aufgebaut, heute noch ein Schandfleck in der bezaubernden Landschaft am Gardasee.

Im Grand Hotel in Gardone erwartete mich eine Einladung zum Mittagessen. Ich wurde von Dr. Bortolani abgeholt und in einem Wagen zur Villa gefahren. Im Salon hatte ich nur wenige Minuten zu warten. Die Tür zu einem anderen Zimmer öffnete sich: ein „ardito“, einer von d’Annunzios Freiheitskämpfern für Fiume, wurde vom „Dichter-Soldaten“ verabschiedet. Tönende pathetische Worte, eine Umarmung, der Soldat salutierte — er trug, das sah man auf seinem jungen Gesicht geschrieben, die Erinnerung seines Lebens mit sich fort — und Gabriele d’Annunzio stand vor mir, begrüßte mich auf Französisch und bat mich in sein Arbeitszimmer. Bücher an allen Wänden, Tische mit Büchern, ein großer Schreibtisch mit vielen Photos in Silberrahmen, schöner Blick auf den See durch zwei französische Fenster. D’Annunzio, viel kleiner als ich ihn mir vorgestellt hatte, elegant, mit einer schwarzen Binde über einem Auge. Er sprach wie ein Mann, der daran gewöhnt ist, angehört zu werden, mit unterstreichenden Bewegungen, in gewähltem Französisch ohne jeden Akzent. „Notturno“ war das Buch, das er, erblindet, geschrieben hatte, als er nach einem Flug über Wien — er hatte Flugblätter, keine Bomben abgeworfen — verwundet zurückgekehrt war. Ich sprach von meiner Absicht, dieses, sein damals letztes Buch ins Deutsche zu übersetzen.

„Dante“, rief d’Annunzio, gegen eine Türe gewandt, „Dante!“ Welche Beschwörung eines hehren Schattens, dachte ich mir. Was mag das bedeuten? Ich war auf alles gefaßt bei diesem Manne, von dem Marinetti mir erzählt hatte, daß er aller Extravaganzen und Phantasien fähig sei.

Und dann öffnete sich eine kleine Tür, und ein alter Diener trat ein: Dante.

„Dante“, sagte d’Annunzio, „bring mir das Manuskript!“ Und er erklärte mir, wie er bei seinem Flug über Wien verwundet worden sei; sein Auge sei gefährdet gewesen, er habe wochenlang im völlig verdunkelten Zimmer liegen müssen. Während dieser Zeit habe er „Notturno“ geschrieben, und zwar im Dunkeln, auf einzelne schmale Papierstreifen, auf denen immer nur eine einzige Zeile stehe.

Dante hielt in der Hand gewaltige Metallringe: auf ihnen waren die ungezählten Streifen des Manuskriptes, mit grünweiß-roten Bändern zusammengebunden, aufgereiht, aufgefädelt worden. Dante brachte immer mehr neue „Ringe“ heran. Es war das merkwürdigste Manuskript, das ich je gesehen hatte.

„Einer meiner Sekretäre hat monatelang gearbeitet, um ein Schreibmaschinenskript daraus herzustellen, es ist ihm gelungen, das Manuskript jedoch sehen Sie vor sich ...“

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