Streifzüge, Heft 50
Oktober
2010

beFREMDend

Unzählig sind die Untersuchungen, die den strukturellen Konservativismus der österreichischen Schule bestätigen; nicht erst seitdem Pisa für das im internationalen Maßstab schlechte Abschneiden der österreichischen Schülerinnen und Schüler steht. AkademikerInnen-Kinder müssen großes Pech haben, die Matura zu verpassen, Kinder von ArbeiterInnen brauchen für den positiven Abschluss schon einiges Glück. Daran hat sich in den vergangenen Jahrzehnten kaum etwas geändert. Bildung wird in Österreich vererbt!

Dieser soziale Missstand wird jedoch weithin als ethnisches Problem dargestellt. Die Diskriminierung wirkt nämlich am deutlichsten bei SchülerInnen mit nichtdeutscher Muttersprache, SchülerInnen mit Migrationshintergrund, der so genannten zweiten und dritten Generation, oder wie auch immer man jene in ihren Chancen benachteiligten Jugendlichen beschreiben mag. Sie haben im Durchschnitt deutlich schlechtere Noten, sie brechen häufiger ihren Schulbesuch ab, ja sie scheitern schon an diversen Zugangsbeschränkungen. Was allerdings weniger mit ihrer Muttersprache oder sonst einem kulturellen Hintergrund als vielmehr damit zu tun hat, dass es zu allen Zeiten zu den Aufgaben der (höheren) Schule gehörte, neben notwendigem Wissen bestimmte Haltungen und Ideologien zu reproduzieren, vordergründig Chancengleichheit zu suggerieren, aber in Wirklichkeit die bestehende gesellschaftliche Ungleichheit aufrechtzuerhalten und diesen Vorgang zugleich mit geeigneten Leistungskriterien zu verschleiern.

Andere Kulturen, Sprachen, Einstellungen, Religionen werden daher als Gründe für das Scheitern vieler migrantischer Kinder in der Schule vorgeschoben. Vor Jahren hat man noch vereinzelt davon gesprochen, dass Kinder mit nichtdeutscher Muttersprache nicht Ursache der Schwächen im Schulsystem seien, sondern diese bloß sichtbar machten. Heute sind sie die Ursache. Punkt!

Zugleich ist in den vergangenen Jahren aufgrund ökonomischer Qualifikationsanforderungen die Zahl der Menschen in Österreich, die nur über einen Pflichtschulabschluss verfügen, von 34,2 Prozent (1991) auf 17,4 Prozent (2008) gesunken. Das bedeutet, dass heute auch viele Jugendliche aus so genannten bildungsfernen Schichten weiterführende Schulen durchlaufen – zu einem großen Teil Kinder aus Zuwandererfamilien.

Wie hat aber das System Schule bzw. die Schulverwaltung auf die Entwicklung reagiert, dass nun mehr Kinder ins Schulsystem integriert werden mussten, die über keine eigenen Zimmer verfügen, deren Eltern ihnen möglicherweise nicht bei den Hausaufgaben helfen und nur schwer Geld für private Nachhilfe zur Verfügung stellen können und denen viele Kenntnisse über örtliche Gegebenheiten und Ressourcen fehlen, die für ihre LehrerInnen als Kinder selbstverständlich waren?

Statt dem Rechnung zu tragen, wurde der Änderungsbedarf jahrelang vor allem in den höheren Schulen schlichtweg ignoriert, ja in den vergangenen zehn Jahren sowohl Unterrichtsstunden als auch PädagogInnen (siehe die muttersprachlichen BegleitlehrerInnen) weggekürzt. Die Bewältigung der größer werdenden integrativen Aufgaben wurde zu einem großen Teil auf die Lehrerinnen und Lehrer abgewälzt. Diese mussten den Spagat versuchen zwischen den traditionellen Bildungszielen und den mangelnden Ressourcen sowie mit dem Gefühl fertig werden, dass es von ihnen abhänge, die daraus folgenden Ungerechtigkeiten zu mildern. Viele sind müde, viele zerbrochen, nicht wenige sind zynisch geworden. Wen wundert’s?

Gleichzeitig ist in den Berufsschulen die Zahl der SchülerInnen mit Migrationshintergrund rückläufig. Sie unterliegen dem verschärften Verdrängungswettbewerb auf einem kleiner werdenden Lehrstellenmarkt. Weil sie hier oft unterliegen, besuchen sie daraufhin vielfach berufsbildende mittlere Schulen. Seit Mitte der 90er Jahre werden unterschiedliche Bereiche an den öffentlichen Schulen autonom entwickelt und entschieden. Im Klima des Konkurrenzkampfs der Schulstandorte führte das dazu, dass ein soziales Anliegen wie das Auffangen von Jugendlichen, die keine Lehrstelle finden können, einen geringen Stellenwert bekam. In Wien z.B. gibt es bei den Handelsschulen und Handelsakademien solche des Bundes und Privatschulen mit Öffentlichkeitsrecht (u.a. von der Wiener Kaufmannschaft, dem Berufsförderungsinstitut bfi Wien und religiösen Trägern). Seit Jahren ist der Trend beobachtbar, dass die öffentlichen Schulen vermehrt Handelsakademie- und deutlich weniger Handelsschulklassen führen. Vielen migrantischen Jugendlichen bleibt daher nur der Weg an private Schulen, für die sie bezahlen müssen. Wohl ein eigenartiges integratives Signal an diese Jugendlichen.

Mögliche Schritte zu einer Besserung der Lage wären:

  • Eine frühe Eingliederung in den Kindergarten. Wer spricht noch davon, dass in den vergangenen Jahren z.B. türkisch sprechenden Kindern ein Kindergartenplatz mit der Begründung verwehrt wurde, die Mutter ist ja ohnehin beim kleinen Bruder bzw. der kleinen Schwester zu Hause? Statt dessen heißt es: „Diese Leute lehnen ja die Bildungsmöglichkeiten ab.“ Sicherlich gibt es solche Fälle. Der Notwendigkeit struktureller Reformen aber persönliche Befindlichkeiten bzw. einzelne Erfahrungen entgegenzuhalten, entspricht bloß den herrschenden Vorurteilen und Rassismen. Natürlich bräuchten die Kindergärten und erst recht die Schulen zur Bewältigung alltäglicher Reibungsverluste und neuer Problemstellungen mehr SozialarbeiterInnen und PsychologInnen. Die gibt es selbstredend nicht!
  • Spätere schulische Differenzierung – Gesamtschule für alle.
  • Ein Ganztagsschulangebot, das mögliche Defizite möglichst früh ausgleicht.
  • Ein schulisches Verständnis, das die bestehende Mehrsprachigkeit unserer SchülerInnen vor allem als Chance wahrnimmt. Nicht nur als eine fürs Big Business, das tut ohnehin schon die Industriellenvereinigung, die hier ein Arbeitskräftepotential für die wirtschaftliche Expansion im CEE-Raum heranwachsen sieht, sondern als Möglichkeit, die Welt aus möglichst verschiedenen Perspektiven und mit möglichst verschiedenen Sichtweisen wahrzunehmen, zu verstehen und zu kritisieren.
  • Schlussendlich eine schulpolitische Diskussion, die die Schule in den sozialen Kontext stellt. Und nicht bloß als Ort für Chancen und Misserfolge beschreibt, wo dann jede(r) selbst schuld ist, wenn er/sie es nicht schafft.
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