MOZ, Nummer 58
Dezember
1990
RU 486:

Befreiungspille?

Überlegungen zu RU 486

Die derzeit geführte Diskussion um die Abtreibungspille RU 486 führt uns Frauen „aufs neue an die alten Orte und in die vorgefertigten Begriffe der Politik“.

Gleichzeitig ist diese „alle Jahre wieder — Abtreibungsfrage“ ein Zeichen dafür, daß es weder ‚Freiräume‘ noch ‚Handlungsspielräume‘ gibt, die uns von den ‚Herrschenden‘ ein für alle mal ‚zugestanden‘ werden.

Dennoch: Voreilig, der Entweder-Oder-Logik verhaftet, fordern Frauen gerade dann und weil Kirche und andere LebensschützerInnen gegen die Abtreibungspille ‚RU 486‘ antreten und der „Hoechst“-Konzern aus Furcht vor einem Produktboykott diese nicht herausrücken will, RU 486 im Namen des ‚Selbstbestimmungsrechts der Frau‘.

Der Ruf nach der Pille, — „wer dagegen ist, ist gegen die Fristenlösung“ (Dohnal) erfolgt vor dem Hintergrund von Vermutungen (noch existieren keinerlei Forschungsergebnisse über Langzeitwirkungen) und nicht geführten inhaltlichen Auseinandersetzungen.

Argumente und Erfahrungen rund um RU 486 sind geprägt durch ein Zurückfallen hinter Frauenbewegung und feministische Theorie. Nach wie vor als ‚reine‘ Abtreibungsfrage diskutiert, erfolgt ein Jubelschrei über das Experimentierfeld Frau, werden Gen- und Reprotechnologien, Gebärverbot und Gebärgebot nicht nur nicht mitgedacht, sondern auch thematisch in keinen Reproduktionskontext gebracht (beziehe mich auf diverse Flugblätter und Veranstaltungen). Und last but not least assoziiere ich die neue „Befreiungspille“ (Emma) mit der alten Anti-Babypille dahingehend, daß diese, ebenfalls einst als ‚Befreiungspille‘ verkauft, heute nur noch Kotzanfälle bewirkt und jede pflichtbewußte Gynäkologin zur ‚Gefahrenunterschrift‘ drängt, wenn Frau Raucherin, Pillenschluckerin und über dreißig Jahre alt ist. Wenn frau dem ÖVP-Gesundheitssprecher Rasinger Glauben schenken darf, wird diese Pille, die er „als eine Revolution in der Frauenheilkunde“ begreift, weil sie bei Kaiserschnitt, Brustkrebs, Zyklusstörungen etc. einsetzbar ist, nicht ewig vom Markt ferngehalten werden, nicht zuletzt weil auch „Schering“ ein ähnliches Präparat in Vorbereitung hat. Und, so meine Vermutung, sind genau aus diesem Grund viele ‚eigentliche‘ Abtreibungsgegner (Leodolter, Uni-Klinik usw.) pro RU 486, für die dann der relativ kleine Abtreibungsmarkt in Kauf genommen werden muß.

Ein Segen für die Frauen?

Angesichts der neuen technischen Möglichkeiten steigt der individuelle Verantwortungsdruck auf die einzelne Frau. Über Ultraschall wird der Fötus im Mutterleib sichtbar und scheinbar als Subjekt dingfest gemacht. Nicht nur der durch die Bildtechnik personalisierte Fötus, auch die Handhabung der Pille — frau vollzieht nun aktiv ihre Abtreibung — gehen unter gegebenen gesellschaftlichen Voraussetzungen wohl eher im Konzept des Psychostreß als im Konzept der Verantwortung und des Kontrollrechts seitens der Frau auf.

Denn der Rückgriff auf rationale, kalkulierte Lebensplanung — „wenn eine Frau nein sagt, dann meint sie nein, auch wenn sie ungeplant schwanger wird, und wenn sie ja sagt, meint sie ja“, Irmgard Schultz’ Betonung des „Selbstbestimmungsrechts als Recht auf bewußte Entscheidungen der Frauen“ geht nicht unbedingt für alle Frauen in dieser Glattheit auf.

Hinter der selbstbestimmten Lebensplanung der Frau verbergen sich nur, allzuoft ohnehin schon widersprüchlich, innerlich zerissene Bedürfnisse, die, gesellschaftlich überformt, letztlich doch nur Wahlmöglichkeiten zulassen, die näher oder ferner stehen, mehr Lust und weniger Last produzieren.

Und von der anderen Seite herkommend, welchem Begriff von Freiheit sitzen wir auf, wenn wir ohne geringste Lust auf Kinder, wählen können zwischen Narkose und Nicht-Narkose, Blutungen und hoffentlich Nicht-Blutungen?

Zum Selbstbestimmungsrecht

Angesichts solcher und ähnlicher Fragestellungen, nicht zuletzt im Zusammenhang mit den ‚neuen‘ Gebärtechniken, wird der alte Selbstbestimmungsbegriff herausgefordert, verteidigt bis radikal in Frage gestellt.

Weder Abtreibung noch ein Kind kriegen sind in sich Akte der Selbstbestimmung. Es geht vielmehr darum, die Entscheidung für den Abbruch oder das Austragen (einer ungewollt) eingetretenen Schwangerschaft ohne Fremdbestimmung treffen zu können“ (Renate Sadrozinski). Dem wäre hinzuzufügen, daß Fristenlösung, möglicherweise die Abtreibungspille und ein weiterer Ausbau der sattsam bekannten, längst überfälligen Forderungen lediglich Voraussetzungen dafür sind.

Eine konkrete Handlung innerhalb der individuellen Lebensplanung von Frauen ist nicht per se selbstbestimmt, „allein schon dadurch, daß sie privat begründbar ist oder auf individuelle Bedürfnisse oder Zwangslagen eines weiblichen ‚Selbst‘ zurückgeführt werden kann. Erst im Zusammenhang mit den gesamtgesellschaftlichen Entscheidungsräumen von Frauen und der Stärkung feministischer Gesellschaftsperspektiven kann sie sich als ’‚selbstbestimmt’ erweisen.

Soweit Ute Annecke in der Verteidigung des Begriffes.

Komplizierter wird die Debatte, wenn sich Feministinnen mit ihrer Forderung nach Selbstbestimmung implizit — wer mehr reproduktive Autonomie fordert, fordert letztlich auch mehr Staat (M. Mies) — und/oder explizit durch das ‚Selbstbestimmungsrecht der Frau in der Verfassung‘ eigentlich an — und nicht mehr gegen — den Staat wenden. Begründung: „Wo positive Rechte formuliert werden, können sie auch eingeklagt werden — wenn wir mächtig genug sind.“

Seit wann sind Sie denn plötzlich für die RU 486?

Selbstbestimmung nicht länger verstanden als Ziel der Abschaffung frauendiskriminierender Gesetze, sondern als Schaffung neuer Gesetze? Wollten wir nicht ursprünglich eine freie Abtreibung und nicht eine neue Gesetzgebung darüber? Der mittlerweile inflationäre Gebrauch des Selbstbestimmungsrechts geht so in einer Summe von Selbstbestimmungen auf, in der die einen abtreiben wollen und die anderen müssen, in der sich die einen auf künstliche Befruchtung einlassen und die anderen rigoros jeden Kinderwunsch ablehnen. Vor lauter individuellen Selbstbestimmungsrechten, die sich auf je verschiedene Lebensinteressen beziehen, konkurrieren und gegenseitig verletzen, gelangen wir dann, wie Susan Zimmermann aufgezeigt hat, zur Notwendigkeit einer regulierenden überindividuellen Instanz, die der bürgerliche Staat repräsentiert.

Die zwingende Logik dieses individualistischen Selbstbestimmungsrechtes führt nicht nur zu mehr Staat, sondern beinhaltet auch ein Moment von Gewalt, Aggressivität und Unterwerfung des Anderen. Anders ausgedrückt: Ein Individuum kann sich erst durch Fremdbestimmung über andere selbstbestimmt konstituieren.

Egozentrische weiße Frauenbewegung

Den Begriff der Selbstbestimmung aus dem Individuellen, Privaten lösen und mit gesellschaftlicher Verantwortung auffüllen (Anna D. Brückmann). Thürmer-Rohr spricht in diesem Sinne von einer Spaltung von individuellem und sozialem Verhalten in unserem Denken und konstatiert eine interessenarme Haltung der Frauen zur Welt und in ihrem Verhältnis zu anderen, fremden Frauen.

Wird feministische Gesellschaftskritik abgelöst durch unser Pochen auf individualistisches Selbstbestimmungs-Glück? Im gegenwärtigen Selbstbestimmungstaumel wurde ebenfalls der spezifische Zusammenhang zwischen der Abtreibungspille RU 486 und der „Dritten Welt“ ignoriert. „The abortion-pill (...) is a blessing for women in the third world“ (Beaulieu, RU-Erfinder), weil RU 486 ohne die dort kaum anzutreffende medizinische Infrastruktur angewendet werden kann.
„Wemos“ weisen aber in ihrer Broschüre zwar ungeachtet der Gebärverbot- und Zwangssterilisierungsproblematik immanent darauf hin, daß RU gerade wegen der fehlenden medizinischen Einrichtungen (durch starke Blutungen) vorerst kein Segen für die „Drittwelt“- Frauen sein kann.

Bevölkerungspolitische Aspekte greifen auch im österreichischen Flüchtlingslager Traiskirchen. Abtreibungen bzw. Freigabe zu Adoptionen, weil in vielen Fällen die Drei-Monats-Frist bereits überschritten, werden „eher gefördert“ oder umgekehrt: „Es wird nicht gefördert, daß Ausländerinnen Kinder kriegen“ (L. Weinbauer, Amb. f. Schwangerschaftshilfe).

Diese Gebär-Tatsachen lassen sich nicht durch ranggereihte Forderungen wie bessere Beratung für ausländische Frauen, versehen mit dem Recht auf Abtreibung, aus der Welt schaffen; obgleich nicht jede Abtreibung mit einer ‚Zwangsabtreibung‘ gleichgesetzt werden kann und darf.

RU 486 als neue Wahlmöglichkeit für Frauen, als materielles Mehr an Selbstbestimmung und Eigenverantwortung? Möglich. Beim Stand der Dinge: weder ja noch nein, weder für Frauen in den Metropolen noch an der Peripherie, weil Erkenntnisse den Vermutungen und Qualität noch allemal der Quantität vorzuziehen sind.