Streifzüge, Heft 3/1998
Oktober
1998

Antinationale Kritik und utopischer Positivismus

Replik auf Klaus Schlesingers Kritik in den »Streifzügen« 2/1998

Ob ich ein „unangenehmer Spießer“, ein „Schwätzer“, ein „Maulheld mit enormen kommunikativen und sozialen Defiziten“ und womöglich sogar Nichtraucher bin steht hier nicht zur Debatte. Einige andere Punkte aus Klaus Schlesigers Leserbrief verdienen zwar eine Antwort ebensowenig, können aber dennoch nicht unerwidert bleiben. Eigentlich gehe ich davon aus, daß sein Leserbrief weitgehend für sich selber spricht und hoffe, daß ihn die Leserinnen und Leser der „Streifzüge“ als das verstanden haben, was er ist: über weite Strecken kein inhaltlicher Beitrag, sondern ein exemplarisches Dokument des bemerkenswerten Bewußtseinszustands einiger Teile der Linken. Um die wüste Attacke Schlesigers dennoch nicht völlig unkommentiert zu lassen, einige Anmerkungen in aller Kürze:

1. Schlesiger beginnt gleich einmal mit einem Vorwurf, der, so wie er ihn formuliert, nur als Projektionsleistung verstanden werden kann. Er meint, meine Forderung nach Kritik sei so, wie sie „öffentlich daher kommt, (...) ganz entsprechend (?) von Vernichtungswillen geprägt.“ Nun wäre es zwar übertrieben, diesen schwachsinnigen Vorwurf einfach umzudrehen. Dennoch sticht es ins Auge, daß man derartiges sonst vor allem aus dem Antisemitismus kennt. Der Vorwurf des Vernichtungswillens ist klassischer Bestandteil des antisemitischen Bewußtseins. Die Taten, die man gedenkt den Anderen anzutun, werden ihnen selbst unterstellt. Die eigenen Vernichtungsphantasien werden den zukünftigen Opfern dieser Vernichtungsphantasien zugeschrieben. Schlesigers Ausführungen sind ihrem inhaltlichen Gehalt nach natürlich keineswegs als antisemitisch zu qualifizieren. Die strukturelle Parallelität seines Ausfalls zur antisemitischen Projektion besteht aber darin, daß bei ihm, wer die zum Volk kollektivierte und sich selbst kollektivierende Bevölkerung inklusive ihrer latent vorhandenen, in ihrer Subjektkonstitution angelegten Vernichtungsambitionen kritisiert, der Vernichtungsphantasie gegenüber dem deutschen Volke oder den linken Volksfreunden geziehen wird.

2. Von der Parole „Nie wieder Deutschland“ mag man halten was man will. Sie war jedoch nicht, wie Schlesiger meint, eine „Autonomen-Parole“. Sie wurde von dem Bündnis geprägt, aus dem später die „Radikale Linke“ hervorging, an der zwar mehrere autonome Gruppen beteiligt waren, die aber von anderen Gruppierungen und Einzelpersonen dominiert wurde. Die genuin autonome Parole zur deutschen Wiedervereinigung hieß „Deutschland halt’s Maul“.

3. Seit 45 Jahren rennt derTyp durch die Linke und kennt heute nicht einen Linken oder eine Linke, der oder die „auch nur näherungsweise das Existenzrecht Israels verneinen würde.“ Welche Linke war das? Gerade in der BRD war es beispielsweise in antiimperialistischen Kreisen, aber auch in vielen anderen Fraktionen der Linken, zeitweise unmöglich, überhaupt von Israel zu sprechen, ohne zurechtgewiesen zu werden. Die korrekte Bezeichnung des Konglomerats des Bösen im Nahen Osten war in der deutschen und auch in der österreichischen Linken lange Zeit „zionistisches Staatengebilde“ — eine Terminologie, die den nationalistischen und staatsfetischistischen Wahn in der Negation des israelischen Staates und dem Haß auf die israelische Nation treffend dokumentiert.

4. Natürlich ist die Verneinung des Existenzrechts Israels keineswegs die einzige Form des Antisemitismus, den die Linke zu bieten hat. Und diese Verneinung ist auch nicht, wie Schlesiger meint, das einzige, was den Antisemitismus-Vorwurf rechtfertigen würde. Von der Sozialdemokratie über die Grünen, von der KPÖ oder der DKP über die diversen K-Gruppen bis zu den Autonomen, von den Spontis bis zu den bewaffneten Gruppen lassen sich sowohl Verharmlosungen antisemitischer Ressentiments und strukturell antisemitische Argumentationen als auch offen antisemitische Ausfälle nachweisen.

5. Der Vergleich mit Broder zeigt in erster Linie, daß Schlesiger nicht mitbekommen hat, daß seit dem Erscheinen von dessen Buch „Der ewige Antisemit“ eine sehr viel differenziertere Diskussion über Antisemitismus und Antizionismus in der Linken begonnen hat. Bei Broder, der beispielsweise eine völlig überzogene Kritik an Marx formuliert, geht es tatsächlich um einen Abschied von der Linken — den man ihm allerdings kaum verdenken kann. Heute geht es darum, aufzuzeigen, wie Nationalismus und Antisemitismus in der Linken immer genau dann Platz greifen, wenn Linke von genuin kommunistischen Positionen abweichen und beginnen, sich positiv auf bürgerliche Vergesellschaftungsformen wie den Staat, die Nation oder den Wert zu beziehen — ein Verfahren, das jemanden wie Broder kaum interessieren dürfte, was aber seine Kritik am Antisemitismus in der Neuen Linken und bei den Grünen auch nicht falsch macht.

6. Schlesiger meint, es sei nun endlich an der Zeit, den Schritt von der Theorie zur Praxis zu wagen. Sein Argument dafür ist seine eigene Langeweile: „Es wird öde, immer nur theoretisch recht zu haben.“ Schlesiger will etwas anderes als die Kritik praktisch werden zu lassen. Er will „die Theorie auf die ersten möglichen Schritte zu ihrer Verwirklichung“ abklopfen und sich auf „Grund- und Detailfragen praktischer Politik“ konzentrieren. Die von mir eingeforderte Kritik meint tatsächlich etwas anderes. Sie hat mit einer Theorie, die verwirklicht werden könnte, nichts gemein. Sie kritisiert das Bewußtsein des bürgerlichen Subjekts als auf objektiven Gedankenformen gegründete Ideologie. Sie will falsche Vorstellungen kritisieren und nicht Politik machen. Sie verwirft die falsche Totalität bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaft, hat aber keine Theorie zur Hand, die Wirklichkeit werden könnte. Einer Linken, der der Unterschied zwischen Ideologiekritik einerseits und utopisch-positivistischer Theorie andererseits nicht geläufig ist, macht sich früher oder später wie Schlesiger Gedanken über Konservative, die „über manipulatorische Tricks zur Verschleierung ihrer Reformunfähigkeit streiten.“ Schlesigers Ausführungen sind selbst der beste Beweis dafür, daß man von Praxis im Sinne einer Politik, die Theorie zu verwirklichen habe, lieber die Finger läßt.

7. Mit einem hat Schlesiger jedoch recht: Das sogenannte Volk „streitet“ nicht über latenten oder offenen Antisemitismus. Eben — es praktiziert ihn.

Warenproduktion und nationales Bewußtsein

Der Auslöser für Schlesigers Angriffe war meine Kritik an Franz Schandls Einschätzung des Nationalismus und des Antisemitismus. Eine Intention dieser Kritik war es, die internen Auseinandersetzungen des „Kritischen Kreises“ zu diesen Themen öffentlich diskutierbar zu machen. Um die Diskussion über Nation, Antisemitismus, Nationalismus und Antinationalismus auch jenseits der oben formulierten kurzen Erwiderungen fortzuführen, werde ich im Folgenden nochmals einige Überlegungen wiederholen, die aus meinem Artikel „Kommunismus oder Deutschland“ („Volksstimme“ 31/98) stammen, den ich als Antwort auf Gerhard Klas’ Kritik an der antinationalen und antideutschen Linken in der BRD („Volksstimme“ 27/98) verfaßt habe.

Was große Teile der Linken heute anstatt einer antinationalen Kritik anzubieten haben, ist das klassische Programm des traditionellen Marxismus: positiver Bezug auf die Arbeit statt Kritik derselben; Internationalismus, der schon begrifflich die Existenz der Nation affirmiert, statt Antinationalismus, der die Nation als bürgerliches Vergesellschaftungsprinzip grundsätzlich ablehnt. Solch eine Linke glaubt auch nach der nationalistischen Massenmobilisierung, wie sie in Deutschland seit Anfang der 90er Jahre, also seit der Wiedervereinigung, zu beobachten ist, an die alten linken Konzepte von Massenorientierung, Bündnispolitik und taktischem Verhalten gegenüber den fetischistischen, also prinzipiell nationalistischen und arbeitsaffirmativen Bewußtseinsformen des umworbenen Volkes anknüpfen zu können.

Die Bewegungslinke will mit den Nazis um die Beantwortung der „sozialen Frage“ konkurrieren. Sie weigert sich beharrlich, anzuerkennen, daß diese Frage — insbesondere in postnationalsozialistischen Ländern wie Deutschland und Österreich — immer auch schon ein Teil der Antwort ist: der positive Bezug auf den Staat als imaginierten kollektiven Garanten des Allgemeinwohls des Volkes. Die Kritiker und Kritikerinnen des Antinationalismus betrachten den Nationalismus ihrer Klientel als aufoktroierte Ideologie. Der antinationalen Kritik hingegen geht es darum, die Bewußtseinsformen als notwendigen Ausdruck der fetischistischen Wertverwertung zu dechiffrieren. Die bürgerliche Subjektivität, die Warentausch und -produktion will und wollen muß, muß auch das organisierte Gewaltmonopol wollen — den Staat. Da dieser in Form des Nationalstaates existiert, ist die Verkörperung der Warenmonade sowohl in ihrer bourgeoisen als auch in ihrer proletarischen Ausprägung nur als aktiver Nationalist oder aktive Nationalistin zu haben. Da die Affirmation von Tausch, Staat und Nation den Subjekten aber keinerlei Garantie ihrer produktiven Vernutzung, die in der kapitalverwertenden Gesellschaft die einzige Möglichkeit individueller Reproduktion bietet, gibt, drängen sie permanent zur Artikulation einer konformistischen Revolte. Ausdruck dieser konformistischen Revolte sind Antisemitismus und Rassismus, die ebenso wie der Sexismus als Basisideologien des warenproduzierenden Systems begriffen werden müssen. Eine derartige antinationale Kritik greift die Nation als Bündelung des wertfetischistischen und damit strukturell antisemitischen, rassistischen und sexistischen Bewußtseins an. Nimmt sich derartige Kritik selber ernst, ist ihr die bewußtlose Fortsetzung des taktierenden Praktizismus versagt.

Die Linke im Postfaschismus

Die spezifische Form der antideutschen Kritik, welche die von Großdeutschen begangenen Taten nicht einfach in einem allgemein gehaltenen Antinationalismus verschwinden läßt, reflektiert die spezifisch deutsche Antwort auf die soziale Frage: den Nationalsozialismus. Auch wenn die Aufhebung des Widerspruchs von Kapital und Arbeit in der Volksgemeinschaft und die Verlängerung eines wertverwertungsimmanenten antikapitalistischen Ressentiments zum Massenmord an Juden und Jüdinnen, an einem zugleich abstrakten und biologisch konkretisierten inneren wie äußeren Feind, allen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften als Möglichkeit innewohnt — in Deutschland ist sie Realität geworden. Nationalismus bedeutet immer ideologische Affirmation von Kapitalproduktivität und Staatsloyalität. Der deutsche Nationalismus impliziert zudem aber Vernichtung von Menschen um der Vernichtung willen: die in Auschwitz und anderswo praktizierte Übersetzung der irrationalen, nahezu pathologischen Rationalität fetischisierter kapitalistischer Warenproduktion und staatlicher Herrschaft in industriell betriebenen und bürokratisch geplanten Massenmord, der Ausdruck des nicht verwirklichbaren Wunsches ist, die abstrakte Seite des Kapitalverhältnisses abzuschaffen, um das Kapitalverhältnis als solches zu retten.

In der Regel tendieren Nationalstaaten zum völkisch-biologistischen Nationalismus, wenn die ursprüngliche, sich meist fortschrittlich gerierende Idee der Nation abgewirtschaftet hat. In Deutschland hingegen stand der völkisch-biologistische Nationalismus schon am Beginn der Konzeption einer deutschen Nation. Heute manifestiert sich die Besonderheit des deutschen demokratischen Nationalismus nicht nur im Blut-und-Boden-Abstammungsrecht, dem ius sanguinis, an dem eine Kritik recht billig zu haben ist, sondern vor allem in der spezifischen Staatskonstruktion der BRD. Horst Pankow hat diese Kontinuität von der Vorstellung der Volksgemeinschaft zum demokratischen Nationalismus treffend zusammengefaßt: „Es sind vor allem seine selbstgesetzten Spielregeln in Form einer ‚freiheitlich-demokratischen Grundordnung‘ und einer a priori behaupteten fundamentalen ‚demokratischen Werteordnung‘, die (in Deutschland) jeder formalen Gesetzgebung und -interpretation vorausgehen, deren Akzeptanz noch jedes partikulare Interesse auf das Wohl des staatlichen Ganzen verpflichtet.“ („Bahamas“ 18/95) Sind Nation und Kommunismus ohnehin schon ein Widerspruch, so läßt sich das genaue Gegenteil einer freien Assoziation freier Individuen kaum besser ausdrücken als in dem Begriff „Deutschland“.

Aufgabe eines antideutschen Antinationalismus, der keineswegs nur ein Anliegen der Linken in der BRD sein sollte, ist es, die deutschen Besonderheiten wertförmiger Vergesellschaftung und die ihnen entsprechenden Modifikationen staatlicher Herrschaft vor dem Hintergrund von Auschwitz zu kritisieren und davon ausgehend die spezifischen Schwierigkeiten eines Linksradikalismus in einem Land mit nationalsozialistischer Vergangenheit zu diskutieren. Gleiches gilt für Österreich, wo zudem die Aufgabe besteht, den auch heute noch als Antifapatriotismus daherkommenden Austropatriotismus vieler Linker in die Ideologiekritik miteinzubeziehen, anstatt ihn den sich fortschrittlich wähnenden Patrioten und Patriotinnen als tolerierbare Alternative zum Deutschnationalismus durchgehen zu lassen.