Internationale Situationniste, Numéro 6
 
1976

Anmerkungen gegen den Urbanismus

Nach der Meinung eines Fachmanns — Chombart de Lauwe — kann man gemäß genauen Experimenten feststellen, dass die von den Planern vorgeschlagenen Programme in gewissen Fällen Unbehagen und Revolten verursachen, die man teilweise hätte vermeiden können, wenn wir über gründliche Kenntnisse der wirklichen Verhaltensweisen und vor allem die Motivierungen zu diesen Verhaltensweisen verfügt hätten.

Größe und Zwang des Urbanismus. Als wir den Bebauungsplaner mit argwöhnischer Eindringlichkeit beschnüffelten, wandte man sich von uns ab, wie es sich gegenüber einem solchen Verstoß gegen die Umgangsformen und einer solchen Unkorrektheit gehörte. Es ist hier nicht die Rede davon, die Volksentscheidung zu inkriminieren. Das Volk hatte sich schon mit derselben Ungehörigkeit geäußert: „Du Architekt!“ — in Belgien war das immer eine ausdrückliche Redewendung. Da aber ein solcher Fachmann heute der Meinung des gemeinen Volkes zustimmt und auch anfängt, den Planer zu beschnüffeln, sind wir nicht doch gerettet? Der Urbanist wird doch offiziell überführt, Unbehagen und Revolten ‘fast’ wie ein halb gebildeter Provokateur hervorzurufen. Es ist also wünschenswert, dass die Behörden schnell reagieren: man kann sich ja nicht vorstellen, dass Brandherde der Revolte offen von denen unterhalten werden, die damit beauftragt sind, sie zu löschen. Das ist ein Verbrechen gegen den sozialen Frieden, das nur ein Kriegsgericht verurteilen kann. Werden wir also zusehen müssen, wie die Justiz gegen die eigenen Reihen wütet? Es sei denn, dass der Fachmann am Ende nur ein schlauer Urbanist ist.

Wenn der Planer die Verhaltensmotivationen derer nicht kennen kann, die er zum Besten ihres seelischen Gleichgewichts unterbringen will, lieber gleich den Urbanismus dem Kriminalforschungszentrum einverleiben (um die Provokateure aufzuspüren — siehe oben — und es jedem zu ermöglichen, sich in der Hierarchie ruhig zu verhalten); kann er sie dagegen kennen, dann hat die Wissenschaft der Bekämpfung des Verbrechens keinen Zweck mehr und sie wird anders firmieren müssen, da der Urbanismus genügen wird, um die bestehende Ordnung aufrechtzuerhalten, ohne zu den taktlosen Maschinengewehren greifen zu müssen. Der dem Beton angeglichene Mensch — was für ein Traum bzw. ein glücklicher Alptraum für die Technokraten, wenn sie auch das dabei verlieren sollten, was ihnen an höherer Nerventätigkeit übrigbleibt und sie sich in der Kraft und Härte des Betons erhalten!

Wenn die Nazis die zeitgenössischen Urbanisten gekannt hätten, so hätten sie die KZ’s in Sozialbauwohnungen verwandelt. Herrn Chombart de Lauwe erscheint aber diese Lösung allzu brutal. Der ideale Urbanismus soll jeden ohne Unbehagen und Revolte den Weg zur Endlösung des Problems des Menschen einschlagen lassen.

Der Urbanismus ist die vollendetste konkrete Verwirklichung eines Alptraums.

Alptraum, nach Littré: „Zustand, der durch ein plötzliches Aufwachen nach äußerster Angst zuende geht.“ Gegen wen geschieht aber dieses plötzliche Aufwachen? Wer hat uns denn bis zum Halbschlaf vollgestopft? Es wäre genauso unsinnig, Eichmann hinzurichten wie die Urbanisten aufzuhängen. Das hieße, die Zielscheiben angreifen, wenn man sich mitten im Schussfeld befindet.

„Planung“ ist das große Wort — das grobe Wort, sagen etliche. Die Fachleute sprechen von Wirtschaftsplanung und von geplantem Urbanismus, dann zwinkern sie einem mit kundiger Mine zu und jeder klatscht Beifall, wenn das Spiel gut gespielt wird. Der Clou des Spektakels ist die Glücksplanung. Und schon führt der Anwalt der Zahlen seine Untersuchung durch; genaue Experimente stellen die Fernsehteilnehmerquote auf; es handelt sich darum, den Raum um sie herum zu ordnen und für sie aufzubauen, ohne sie von den Beschäftigungen abzulenken, mit denen sie durch Auge und Ohr gefüttert werden. Es handelt sich darum, jedem ein friedliches Leben und ein Gleichgewicht zu sichern mit der weisen Vorsorge, die die comix-Seeräuber in ihren Urteilen zeigten: „Tote sprechen nicht!“ Urbanismus und Information ergänzen sich in den kapitalistischen und „antikapitalistischen“ Gesellschaften: sie organisieren das Stillschweigen.

Un euphorimètre.

Wohnen ist das „Trink Coca-Cola!“ des Urbanismus — die Notwendigkeit des Trinkens wird durch die, Coca-Cola zu trinken, ersetzt. „Wohnen heißt, überall zuhause zu sein“, sagt Kiesler, aber solch eine prophetische Wahrheit greift niemanden an den Hals, sie ist nur ein Seidentuch gegen die überhandnehmende Kälte, auch wenn sie an eine Schlinge erinnert. Wir werden bewohnt — von diesem Punkt muss man ausgehen.

Als Public Relation ist der ideale Urbanismus die Projektion einer konfliktlosen gesellschaftlichen Hierarchie in den Raum. Straßen, Rasenflächen, natürliche Blumen und künstliche Wälder ölen das Räderwerk der Untertänigkeit und machen sie liebenswürdig. In einem Science-Fiction-Roman von Yves Touraine bietet der Staat sogar den pensionierten Arbeitern einen elektronischen Selbstbefriedigungsapparat: dabei finden Wirtschaft und Glück ihren gemeinsamen Vorteil.

Ein gewisser Prestigeurbanismus soll nach Chombart de Lauwe notwendig sein. Das von ihm vorgeschlagene Spektakel macht Haussmanns Idee zur Folklore, der sich doch keine andere Inszenierung des Prestiges als durch ein Schussfeld vorstellen konnte. Diesmal handelt es sich darum, das Spektakel über das alltägliche Leben bühnenmäßig zu organisieren, jeden in dem Rahmen leben zu lassen, der der ihm durch die kapitalistische Gesellschaft aufgezwungenen Rolle entspricht, und ihn noch mehr zu isolieren, indem er wie ein Blinder dazu erzogen wird, sich in einer Materialisierung seiner eigenen Entfremdung illusorisch zu erkennen.

Die kapitalistische Raumerziehung ist nichts anderes als die Erziehung in einem Raum, in dem man seinen Schatten verliert, und sich selbst durch das viele Suchen dort, wo nichts es selbst ist, ganz verliert. Was für ein schönes Beispiel der Hartnäckigkeit für alle Professoren und sonstige anerkannte Organisatoren der Ignoranz!

Den Plan einer Stadt, deren Straßen, Mauern und Viertel machen so viele Zeichen einer seltsamen Konditionierung aus. Welches Zeichen können wir darin als das unsrige erkennen? Einige Kritzeleien auf den Mauern, in aller Eile eingeritzte Worte der Verweigerung bzw. verbotene Gesten, die den Gelehrten nur auf den Mauern Pompejis, in einer versteinerten Stadt interessant zu sein scheinen. Unsere Städte sind aber noch viel mehr versteinert. Wir wollen im bekannten Land, unter lebendigen Zeichen, die alltägliche Freunde sind, leben. Die Revolution wird auch die ewige Schaffung von Zeichen sein, die allen gehören.

Eine unglaubliche Schwere haftet all dem an, was irgendwie mit dem Urbanismus verbunden ist. So sinkt das Wort „konstruieren“ im Gewässer durch, auf dessen Oberfläche die anderen möglichen Worte schwimmen. Überall dort, wo die bürokratische Zivilisation sich ausgedehnt hat, ist offiziell eine anarchische individuelle Bauart eingeführt und von den zuständigen Machtorganen übernommen worden, so dass der Bautrieb wie ein Laster ausgetilgt wurde und kaum noch bei Kindern und Primitiven — den „Unverantwortlichen“ nach der Verwaltungsterminologie — fortbesteht. Sowie bei all denen, die ihr Leben, da sie es nicht zu einem anderen umwandeln können, damit verbringen, ihr Nest abzureißen und dann wieder aufzubauen.

Der Urbanismus ist darauf bedacht, die Kunst der Beruhigung in der reinsten Form anzuwenden: die letzte Feinheit einer Macht, die im Begriff ist, für die totale Kontrolle des Geistes zu sorgen.

Surface maxima et normale de travail dans le plan horizontal.

Gott und die Stadt: Keine abstrakte und nicht vorhandene Kraft konnte besser als der Urbanismus Anspruch auf die Nachfolge Gottes für die Stelle eines Pförtners erheben, die seit dem bekannten Tod frei stand. Durch seine Allgegenwart, seine unermessliche Güte und eines Tages vielleicht unumschränkte Macht hätte sicher der Urbanismus (bzw. dessen Projekt) genug an sich, um die Kirche in Schrecken zu versetzen, wenn der geeignete Zweifel über die Orthodoxie der Macht bestünde. Das ist aber nicht der Fall, denn die Kirche war schon lange vor der Macht „Urbanismus“: was könnte sie von einem weltlichen Sankt Augustinus befürchten?

Es ist etwas Bewunderungswürdiges dabei, in dem Wort „wohnen“ Tausende koexistieren zu lassen, denen sogar die Hoffnung auf ein Jüngstes Gericht abgenommen wird. In diesem Sinne vervollständigt das Bewundernswürdige das Unmenschliche.

Das Privatleben industrialisieren: „Macht aus Eurem Leben ein Geschäft!“ wird die Parole lauten. Jedem vorschlagen, seine Lebensumwelt als eine kleine, zu führende Fabrik, als ein Unternehmen im Kleinen mit seinen Maschinensurrogaten, seiner Prestigeproduktion und seinem konstanten Kapital an Wänden und Möbeln, ist es nicht die beste Art und Weise, die Sorgen dieser Herren vollkommen verständlich zu machen, die eine Fabrik besitzen — eine wahre, eine große, die auch produzieren muss?

Den Horizont vereinheitlichen: die Mauern und die zurechtgemachten grünen Ecken weisen dem Traum und dem Denken neue Grenzen zu, denn wissen, wo die Wüste zuende ist, heißt doch, sie ins Reich der Poesie rücken zu lassen.

Die neuen Städte werden sogar die Spuren der Kämpfe verwischen zwischen den traditionellen Städten und den Menschen, die sie unterdrücken wollten. Aus dem Gedächtnis eines jeden diese Wahrheit vertilgen, dass jedes alltägliche Leben seine Geschichte hat, und den unreduzierbaren Charakter des Erlebten in dem Mythos der Beteiligung bestreiten — so würden die Urbanisten ihre Ziele ausdrücken, wenn sie so gut wären, die ihren Geist verstopfende Ernsthaftigkeit für einen Augenblick beiseite zu legen. Verschwindet die Ernsthaftigkeit, so wird der Himmel heller und alles oder fast alles klarer; so wissen z.B. die Humoristen recht gut: den Gegner mit H-Bomben vernichten, ist gleichbedeutend damit, sich selbst einen Tod unter längeren Schmerzen aufzuerlegen. Muss man sich noch lange über die Urbanisten lustig machen, damit sie in dem von ihnen vorbedachten Attentat den Entwurf ihres Selbstmordes erkennen?

Die Friedhöfe sind die natürlichsten grünen Zonen die es gibt, und die einzigen, die harmonisch in den Rahmen der zukünftigen Städte passen, wie die letzten verlorenen Paradiese.

Der Anschaffungspreis soll für das Verlangen zu bauen kein Hindernis mehr sein — so lautet die Forderung eines linken Aufbauers. Möge er ungestört weiterschlafen, bald ist es soweit — und zwar, wenn das Verlangen zu bauen einmal nicht mehr vorhanden ist.

In Frankreich sind Verfahren entwickelt worden, die aus dem Bau ein Spiel für Mechaniker machen (J.-E. Havel). Im günstigsten Fall ist doch ein Selbstbedienungsgeschäft nichts als ein Ort, wo man zu etwas dient, wie die Gabel zum Essen.

Indem der Urbanismus den Machiavellismus dem Beton beimischt, hat er ein gutes Gewissen. Wir treten in das Reich des polizeilichen Zartgefühls. In aller Würde zum Sklaven machen.

Im Vertrauen bauen: sogar die Wirklichkeit der Glaswände kann die unwirkliche Kommunikation nicht verdecken, sogar die Stimmung der öffentlichen Plätze entlarvt die Verzweiflung und die Isolierung des einzelnen Gewissens, sogar die geschäftige Anfüllung des Raumes lässt sich durch Leerlauf ermessen.

Projekt für einen realistischen Urbanismus: die Piranesischen Treppen durch Aufzüge ersetzen; die Gräber in Hochhäuser verwandeln; entlang der Kanalisation Platanen pflanzen; Mülleimer zu Fischteichen einrichten; die Elendswohnungen aufeinanderstapeln und alle Städte in der Form von Museen aufbauen; aus allem und sogar aus nichts Nutzen ziehen.

Die zum Greifen nahe Entfremdung: der Urbanismus macht die Entfremdung fühlbar. Damals erlebte das ausgehungerte Proletariat die Entfremdung wie ein tierisches Leid. Wir werden sie mit dem blinden Leid der Dinge erleben. Sich tastend als anderer fühlen.

Die ehrlichen und hellsichtigen Urbanisten haben den Mut der Säulenheiligen. Sollen wir eine Wüste aus unserem Leben machen, um ihr Verlangen zu rechtfertigen?

Seit etwa zwanzig Jahren haben die Hüter des philosophischen Glaubens das Vorhandensein einer Arbeiterklasse entdeckt. In der Zeit, wo sich die Soziologen in ihrem Beschluss einig sind, dass die Arbeiterklasse nicht mehr existiere, haben dagegen die Urbanisten weder auf die Philosophen noch auf die Soziologen gewartet, um den Bewohner zu erfinden. Eines Tages muss ihnen zum Ruhm gesagt werden, dass sie als erste die neuen Dimensionen des Proletariats erkannt haben. Eine um so genauere und um so weniger abstrakte Definition, als sie es geschafft haben, fast die ganze Gesellschaft mit den gewandtesten Dressurmethoden zu einer weniger brutalen, aber radikalen Proletarisierung zu führen.

Bekanntmachung an die Ruinenaufbauer: auf die Urbanisten werden die letzten Höhlenbewohner von Wellblechbaracken und Elendsquartieren folgen. Sie werden bauen können. Die Privilegierten der Schlafstädte werden nur zerstören können. Von einem solchen Zusammentreffen ist viel zu erwarten: es definiert die Revolution.

Indem das Heilige sich entwertet hat, ist es zum Geheimnis geworden: der Urbanismus ist der letzte Verfall des Großen Architekten.

Hinter der technologischen Selbstgefälligkeit versteckt sich eine offenbarte und als solche unbestreitbare Wahrheit: „wohnen“ muss man. Der Pennbruder weiß ganz genau, was er von der Natur einer solchen Wahrheit halten soll. Unter den Mülleimern, unter denen ein Wohnungsverbot ihn zu leben zwingt, kann er ohne Zweifel besser als irgendjemand anders abschätzen, wie wenig der Aufbau seines Lebens und der seiner Bleibe auf der einzig gültigen Wahrheitsebene — der praktischen — zu unterscheiden sind. Die Verbannung, in die er durch unsere gesittete Welt verwiesen wird, macht seine Erfahrung so lächerlich und unbequem, dass der anerkannte Aufbauer in ihr eine Veranlassung zur Rechtfertigung finden würde — vorausgesetzt (eine unsinnige Hypothese!), dass die Macht nicht mehr für seine Existenz bürgen sollte.

Es soll keine Arbeiterklasse mehr geben. Einer beträchtlichen Zahl ehemaliger Proletarier sei der damals einer Minderheit zugängliche Komfort heute zugänglich usw. — das alte Lied! Handelt es sich aber nicht vielmehr um eine zunehmende Quantität an Komfort, die ihren Bedürfnissen zugänglich wird und sie süchtig danach macht, um immer mehr zu bitten? So dass es so aussieht, als ob eine gewisse Organisation des Komforts wie eine Seuche all diejenigen proletarisiert, die sie zwangsläufig infiziert. Nun übt die Zwangsläufigkeit ihren Einfluss durch verantwortliche Führer aus, die Priester einer abstrakten Ordnung, deren einziges Privileg sich früher oder später darauf beschränken wird, über ein mit Gettos umgebenes Verwaltungszentrum zu herrschen. Der letzte Mensch wird vor Langeweile sterben, wie eine Spinne mitten in ihrem Gewebe verhungert.

Man muss in aller Eile bauen, es gibt so viele Leute, die eine Wohnung brauchen — so die Humanisten des Stahlbetons. Man muss unverzüglich Schützengräben ausheben, sagen die Generäle, das ganze Vaterland wartet auf seine Rettung. Ist es nicht irgendwie ungerecht, jene zu loben, während man sich über diese lustig macht? Im Zeitalter der Raketen und der Konditionierung enthält der Scherz der Generäle immerhin noch etwas Geschmack. Aber unter demselben Vorwand Schützengräben in die Höhe errichten!

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