Wurzelwerk, Wurzelwerk 23
August
1983

ALW zur Gewaltfrage

Die installierte Gewalt zieht eine Gegengewalt nach sich: Die Revolte der Unterdrückten oder der Jugend, die entschlossen für eine gerechtere und bessere Welt kämpft. Wenn der Protest gegen die Ungerechtigkeit auf die Straße kommt, dann glauben die Autoritäten, das Recht und die Pflicht zu haben, die öffentliche Ordnung zu wahren, oder wiederherzustellen, auch wenn sie harte Mittel anwenden müssen. Dies ist eine neue Stufe im Zyklus der Gewalt.

(Dom Helder Camara)

Österreich ist keine Insel der Seligen, die Steine, die da fliegen mußten, waren der Ausdruck unserer ohnmächtigen Wut und Verzweiflung — einer Verzweiflung, die wir wohl alle kennen. Verzweiflung über die Kälte, die Lieblosigkeit und Unehrlichkeit, die diese Gesellschaft prägen! Wut gegen die, die uns dieses Leben aufzwingen, die Bosse, die oberen Zehntausend, die Politiker, die uns Märchen erzählen wollen, die vom Sozialismus reden und Panzer nach Argentinien und Chile schicken wollen. Wir sind kein Kanonenfutter, kein Absatzmarkt für Konsumgüter, kein billiger Rohstoff. Wir wollen endlich leben! ...

(aus einem Flugblatt der Bewegung 1. März)

Gewalt ist ein Produkt unserer Gesellschaft und bestimmt diese somit. Gewalt ist bestimmender Faktor des Ausbeutungsverhältnisses zwischen 1. und 3. Welt, der Beziehungen zwischen Mann und Frau, des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit. Unsere heutigen Staaten sind voll von Armeen, die gerade diese strukturelle Gewalt festigen sollen. Auch hinter der subtilen Gewaltanwendung am Arbeitsplatz, in der Ehe oder in der Werbung steht eine Armee, die eine Ordnung im Sinne der Mächtigen aufrechterhält. Es ist der Unternehmer gegenüber seinen Arbeitern, der Mann gegenüber seiner Frau und die Kaufhauskette gegenüber ihren Kunden, die die Macht besitzen. Die militarisierten Organisationen unserer Gesellschaft wie Bundesheer, Polizei und Gendarmerie schützen diese Ordnung.

Die Frage einer Veränderung dieser Ordnung (des Kapitals) kann um den Begriff „Gewalt“ nicht herum. Das Ziel ist zweifellos die Freiheit von Gewalt, die Gewaltlosigkeit. Die Schwierigkeit dabei ist aber, wie und wann diese Gewaltfreiheit eingebracht werden soll. und kann. Wenn wir Gesellschaftsveränderung als einen Prozeß begreifen, ist es zwecklos, Gewaltfreiheit an einem bestimmten Punkt in diesem Prozeß postulieren zu wollen. Nützlicher ist es schon, in konkreten politischen Auseinandersetzungen, z.B. heute in Österreich, Gewaltfreiheit als Methode zu proklamieren.

Jedoch darf daraus kein Dogma entstehen, das zur Bevormundung anderer — gewaltsamer — Methoden und zur ständigen Abgrenzung gegenüber gewaltsamen Aufständen und Widerstandsformen von Unterdrückten führt. Eine Kritik an dem abstrakten Bekenntnis zur Gewaltfreiheit wäre längst nötig. Unter dem Druck der Massenmedien und etablierter Parteien glauben einige Friedensgruppen, sich abstrakt zur Gewaltfreiheit bekennen zu müssen. Die abstrakte Diskussion über die Gewaltfrage und das ständige Bekenntnis zur Gewaltfreiheit unter dem äußeren Druck dürfte kaum praktische Bedeutung für die kritische Auseinandersetzung mit der Gewaltfrage haben, wohl aber für die eigene Legitimation gegenüber den etablierten Parteien und herrschenden Massenmedien. Ein solches Verhalten liefert zugleich auch die ideologische Grundlage für die permanente Distanzierung von Opfern jener strukturellen Gewalt, die selbst hinter der ideologischen Fassade der Gewaltfreiheit verborgen bleibt. Mit solcher Distanzierung leistet man aber, gewolltoder ungewollt, der Spaltungsstrategie der Herrschenden gegenüber der Friedensbewegung Vorschub. Für uns bedeutet das Prinzip der Einheit in der Vielfalt vielmehr, daß militante Aktionen der „Gewalt von unten“ und gewaltfreier Widerstand einander ergänzen. Zur Überwindung der herrschenden strukturellen Gewalt bedarf es einer Vielfältigkeit der Widerstandsformen:

  • von den Friedensappellen, denen massenhafte Unterstützung zuteil wird,
  • bis zur gewerkschaftlich orientierten Arbeit in der Armee, die eine Demokratisierung fordert;
  • von Sabotageakten in den Rüstungsbetrieben
  • bis zu Formen sozialer Verteidigung wie Sitzstreiks und passive Resistenz;
  • von den Großdemonstrationen gegen neue Waffensysteme oder Waffenexporte
  • bis zu Anschlägen gegen US-Militäreinrichtungen;
  • von den ökumenischen Anti-Kriegsgebeten
  • bis zu Solidaritätsaktionen für Befreiungsbewegungen der „3. Welt“;
  • von den Verweigerungen der Frauenfriedensbewegungen bis zum Wehrdienstbuchverbrennen von Soldaten;
  • vom Kampf gegen den militärischen Flughafenbau in Frankfurt
  • bis zu den täglichen Informationsständen für den Weltfrieden.

Es ist wichtiger, sich über den Ursprung der Gewalt im Klaren zu sein, als die Methoden des Widerstandes in gewaltlose und gewaltsame auseinanderzudividieren.

Nachsatz:

Als prinzipieller Widerspruch bei der Diskussion unserer Stellung zum „Frieden“ erwies sich der Gegensatz zwischen kurzfristigen, innerhalb des bestehenden Systems zumindest ansatzweise realisierbaren Forderungen und langfristig utopischen Konzeptionen einer friedlichen Gesellschaft. Sollen wir zum Beispiel Reformen für ein Bundesheer vorschlagen, dessen Abschaffung wir eigentlich fordern? Ohne den Widerspruch zu lösen und um gleichzeitig Konkretheit, Aktualität und Realitätsbezogenheit des Programms nicht zu verlieren, teilten wir die Forderungen also in kurzfristige einerseits und langfristige andererseits, wobei die Einlösung kurzfristiger Forderungen Freiräume schafft und Widersprüche des Systems aufzeigt, die zu dessen Veränderung führen.

Manches bleibt trotz alledem unbefriedigend. Zum Beispiel die Tatsache, daß wir uns gegen jegliche österreichische Rüstungsproduktion stellen und gleichzeitig eine Unterstützung auch des bewaffneten Kampfes von Befreiungsbewegungen in der 3. Welt für notwendig erachten. Kurzfristig ist uns klar, daß österreichische Waffenexporte dem Profitinteresse österreichischer Rüstungsbetriebe entspringen und zudem Waffen ausschließlich an herrschende Eliten verkauft werden. Deshalb lehnen wir Produktion und Export österreichischer Waffen schlichtweg ab. Keine Einigung hingegen erzielten wir bei der Frage, wie revolutionäre Bewegungen in der 3. Welt zukünftig ihren legitimen Bedarf an Waffen decken sollen, ohne damit in die Hände der einen oder anderen Großmacht getrieben zu werden.

Schließlich bleibt noch zu erwähnen, daß sowohl im Erziehungsprogramm als auch im Wirtschaftsprogramm der Alternativen Liste Wien friedenspolitische Vorstellungen miteinflieBen und die hier vorliegenden teilweise ergänzen.

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