FORVM, No. 239
November
1973

150 Jahre Technokratie

Auguste Comte: Plan der wissenschaftlichen Arbeiten, die für eine Reform der Gesellschaft notwendig sind. Übersetzt von Wilhelm Ostwald‚ eingeleitet und herausgegeben von Dieter Prokop. Reihe Hanser, München 1973, 156 Seiten, DM 7,80, öS 61,60.

Über Auguste Comte ist ein Wort von Marx bekannt: an den Positivisten sei nichts positiv als ihre Arroganz. Die Auflösung der positivistischen Schule hat dem Marxismus die nähere Beschäftigung mit ihr erspart, wie sie nun Dieter Prokop in seiner grundsätzlich argumentierenden Einleitung zu dem vorliegenden Jugendwerk Comtes aus dem Jahr 1822 vornimmt.

Comte, kaum 24 Jahre alt, spricht das Leitmotiv seines gesamten späteren Denkens unmißverständlich aus: er sucht den dritten Weg zwischen der Revolution von 1789 und der Restauration von 1814. Er bekämpft die revolutionäre Gesellschaftskritik als „die erste Ursache der fürchterlichen, immer wiederkehrenden Erschütterungen, von denen die Krise begleitet ist“ (p. 36). Comte will die negative Kritik durch seine positive „organische Doktrin“ überwinden, die nach der Zerstörung des Feudalismus die permanente Revolution beenden und den Status einer definitiven Ordnung begründen soll. Nicht Kritik, sondern autoritäre Organisation der Gesellschaft.

Mit Marx teilt Comte die Auffassung, daß die bürgerliche Gesellschaft ein „kritischer“, das heißt: ein labiler und potentiell stets revolutionärer Zustand sei. Nur fürchtet Comte die Gefahr, wo Marx die Chance erkennt. Comte plant eine „soziale Physik“, um die stabile Gesellschaftsordnung der Zukunft wissenschaftlich prognostizieren zu können. Marx jedoch konzentriert sich auf die Kritik der bürgerlichen Krise und hat sich den französischen Rezensenten des „Kapital“ gegenüber ausdrücklich geweigert, „comtistische“ Rezepte für die Zukunft vorzuschreiben.

Dennoch haben Marx und Comte sehr ähnliche Voraussetzungen. Beide verurteilen die rationalistische Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts, die im utopischen Sozialismus neu belebt worden war. Vermutlich ist es eine Polemik auch gegen Saint-Simon, seinen Lehrer, wenn Comte den Philosophen der Aufklärung vorwirft, daß sie „die Klassen, welche sich an der Spitze der allgemeinen Bewegung während einer langen Reihe von Jahrhunderten befanden, so darstellen, als wenn sie sich in einer ununterbrochenen Verschwörung gegen das Menschengeschlecht befunden hätten“ (p. 126). Auf dieselbe Weise tadelte Marx die naiven Mehrwerttheorien der Linksricardianer.

Die soziale Physik Comtes ist weit mehr eine Metaphysik der Geschichte als eine Naturwissenschaft des Sozialen. Comte stellt sich die Aufgabe, „das Phänomen der Entwicklung des Menschengeschlechtes in seiner größten Allgemeinheit zu begreifen“ (p. 153), und er konzediert den Sozialwissenschaften eine eigene Logik, die das genaue Gegenteil der physikalischen Logik sei (pp. 149 ff.).

Dieter Prokop vergleicht die französische Tradition des „Vernunftrechts“, das die Gesellschaft durch den Staat reformieren will, mit der britischen Tradition des „Naturrechts“, das sich dagegen „auf die naturwüchsige Entwicklung zur Freiheit durch die Emanzipation der Warenproduktion von feudalen Fesseln“ verläßt. Comte verhält sich durchaus zweideutig zu jenem Vernunftrecht der rationalistischen Philosophie, „deren progressive, aufklärerische Intentionen er technokratisch wendet“ (p. 10).

Einerseits spottet Comte über alle Versuche, die spontane Bewegung der Geschichte durch juristische und politische Eingriffe ändern zu wollen. Zwanzig Jahre vor den Anfängen des historischen Materialismus schreibt er mit aller nur wünschenswerten Kiarheit, „daß es eine Torheit ist, das politische System als unabhängig von anderen Faktoren zu betrachten und aus ihm die Kräfte der Gesellschaft abzuleiten, da doch umgekehrt die Politik ihre Kräfte aus der Gesellschaft entnehmen muß, wenn sie nicht zur Wirkungslosigkeit verdammt sein will“ (p. 90).

Andrerseits träumt Comte aber von der wissenschaftlichen Planung des Geschichtsprozesses, die sich auf die Autorität derempirischen Forschung stützt und mit Hilfe der schönen Künste den Ungebildeten schmackhaft gemacht wird.
Comte ist Ideologe der Technokratie, weil er glaubt, daß „die theoretischen Arbeiten der sozialen Reorganisation ... von den praktischen“ getrennt und die politischen Aktionen zu ihrem Vorteil der Wissenschaft unterworfen werden können (p. 63).

Wie ist dieser Widerspruch möglich? Comte erklärt den sozialen Fortschritt allein aus „der zunehmenden Bedeutung des technischen Elementes“ (pp. 89/90). Was liegt näher, als eine Gesellschaft, die alles der Technik verdankt, durch die Wissenschaft steuern zu lassen? Das ist die Lehre Saint-Simons, ergänzt um eine Physik des Sozialen.

Vielleicht hat Marx an Saint-Simon gedacht, als er in der dritten These über Feuerbach davor warnte, die Gesellschaft in zwei Teile zu zerlegen, „von denen der eine über ihr erhaben ist“. Jedenfalls begreift Marx, der von einer Kritik der Rechtsphilosophie ausgeht, im Eigentum also in den Produktionsverhältnissen — den Motor der gesellschaftlichen Dynamik. Comte jedoch, der mit der Technik anfängt und mit der Wissenschaft schließt, setzt die Verbesserung der Produktivkräfte mit dem geschichtlichen Fortschritt gleich.

Am Begriff der Produktionsverhältnisse scheiden sich die Geister des historischen Materialismus und der positivistischen Soziologie. „Es ist nur zu gewöhnlich“, klagt Comte (p. 101), „daß man dem Egoismus zuschreibt, was wesentlich auf Unwissenheit beruht.“ Für ihn kann sich die Theorie nicht blamieren, wenn sie mit dem vitalen Interesse der Massen kollidiert.

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