MOZ, Nummer 54
Juli
1990
Autonomes Beislprojekt:

10 Jahre Rotstilzchen und ... ein Ende

Die Tage des autonomen Politbeisls in der Wiener Margaretenstraße sind gezählt. Damit geht die bunte, abwechslungsreiche und nicht zuletzt komplikationsgespickte Geschichte eines alternativen Stadtteilzentrums zu Ende.

Foto: van der Straeten

„I bin nur dort z’’Haus, wo mich die Leut’ grüßn, wo’s mi kennan. I kenn die meisten Beisln im Grätzl und geh dort ein und aus. Ins Rotstilzchen geh i, weil’s erstens glei ums Eck liegt und zweitens a Abwechslung in mei Beisltour bringt“, beschreibt ein Installateur aus dem Wiener Bezirk Margareten seine Beziehung zu dem „alternativen Kommunikationszentrum“.

„Es ist das verlängerte Wohnzimmer der Autonomen“, meinen linke Aktivisten und Rotstilzchen-Getreue.

Jene, die das „Stilz“ schon von der ersten Stunde an kennen, bezeichnen es als „Spiegelbild der linken Wiener Politszene“. „Wenn sich bestimmte politische Stimmungen abgezeichnet haben, machte sich das immer auch im Rotstilzchen bemerkbar“, wissen „die Alten“ — wie sie sich selber nennen — zu berichten. „Die jeweils politisch aktiven Gruppen haben sich im Rotstilzchen getroffen, hier war die Anlaufstelle, das Infozentrum und der Platz für Diskussionen.“

Politische Ideale verwirklichen

Gegründet wurde das Rotstilzchen am 1.1.1980 vom „Forum Alternativ“, das als Gegenprojekt zu der damals inszenierten UNO-Konferenz für „Wissenschaft und Technik im Dienste der Entwicklung“ ein komplettes Ökodorf mit Windrad und Bioklo auf der Praterwiese aufgebaut und damit für einigen Pressewirbel gesorgt hatte. „Von dieser Aktion blieben 10 bis 12 Leute über, die für ihre politischen Ideen ein zukünftiges Forum suchten und im Rotstilzchen-Projekt fanden“, erzählt einer der Mitbegründer.

Voller Elan stürzten sich die Mitglieder des neugegründeten Kollektivs auf die Verwirklichung ihrer großen Ideale: „Aktive Solidarität mit den Befreiungskämpfern auf dieser Welt üben, Orientierungshilfe geben für uns und andere, um das kritische, autonome und veränderungswillige Potential zu stärken, hier bei uns im 5. Bezirk (‚Na wusch, wir drahn auf‘)“, wie die Selbstdarstellung in einem Artikel der Wiener Stadtzeitung „Falter“ lautete.

Und so wurde das Rotstilzchen mehr als ein Platzerl, wo man sich zu Alternativ-Preisen ansaufen konnte, es war: „Ein Beisl mit biologischer Küche, regelmäßigen politischen und kulturellen Veranstaltungen, internationalem Zeitungscafé mit rund 100 Zeitschriften quer durch das ganze Spektrum von links nach rechts sowie einem reichhaltigen Spieleangebot.“

Für jeden war etwas dabei: „Chinesisches Schach“ für die Vergeistigten, „Klassenkampf“ zum Üben im Kleinen für die Großen, „Provopoli“ für die Antikapitalisten oder ein riesiges „Mensch ärgere Dich nicht“ für die Polit-Frustrierten.

Ebenso hintergründig wie die Auswahl der Spiele wurde auch die Auswahl der Speisen betrieben.

Biologische Küche bedeutete für die Rotstilzchen-Leute nicht etwa, nur biodynamisches Müsli zu essen und Milch von glücklichen Kühen zu trinken, sondern das Motto lautete: „Politik mit dem Einkaufskorb machen!“ So wurden Produkte von Bauernhöfen aus benachteiligten Regionen vorgezogen und die Nahrungsmittel möglichst ohne Zwischenhandel gekauft. Tee, Kaffee und Gewürze wurden bei solchen Firmen bestellt, die Waren direkt von Genossenschaften aus der „Dritten Welt“ importierten. „Dadurch war es möglich, den benachteiligten Erzeugern etwas höhere Preise als marktüblich zu zahlen.“

Cola war das Kapitalistengesöff

Coca Cola, das Kapitalistengetränk schlechthin, gab es an der Bar nicht, dafür aber Bier von einer kleinen Brauerei im Waldviertel. Biologischen Wein und Traubensaft lieferte ein Bauer aus dem Weinviertel, und einige sehr aktive Mitglieder des Beislkollektivs waren „stolz darauf, bei der allherbstlichen Weinlese mitgeholfen zu haben.“

„Die Kontakte zu unseren Bauern waren so gut, daß sie ihre Waren manchmal sogar direkt bei uns im Rotstilzchen verkauft haben“, erzählt ein ehemaliger Beislmitarbeiter, „das machte das Bild des Lokals um so bunter.“

Durch diese Art gelebter Einkaufspolitik entstand bald eine „Einkaufskooperative Margareten“, die auch ‚ganz normale Leute aus dem Stadtteil‘ in das Projekt miteinbezog, was sehr im Sinne des Kollektivs war: „Wir wollten die Grenzen zwischen Machern und Kunden aufheben. Die Leute sollten aktiv an allem teilhaben.“

Um möglichst viele verschiedenartige Gesellschafts- und Altersgruppen anzusprechen, starteten einige den Versuch, einen Kindernachmittag zu machen, andere wiederum organisierten sonntägliche Senioren-Frühschoppen, die ganz Mutigen verordneten einen Nichtrauchertag.

So wurde undogmatisch experimentiert und ausprobiert, mit neuen Leuten kamen neue Ideen, während andere ausstiegen und alte Vorhaben einschliefen.

Hauptsitz vieler Initiativen

„Es gab nie eine wirklich einheitliche politische Linie“, darin ist man sich einig. Und ebenso heterogen waren auch die Initiativen, die leerstehende Rotstilzchenräumlichkeiten im ersten Stock des Hauses für ihre Aktivitäten nutzten, so beispielsweise die „ARGE Zivildienst“, die „Friedensinitiative Margareten“, die Umweltschutzgruppe „Konkret“ oder die Aktivistengruppe des „Abfangjägervolksbegehrens“.

Der Grüne Klub-Promi Peter Pilz politisierte damals noch an der Basis und ging fast ein Jahr lang im „Abfangjägerbüro“ ein und aus. Zum Beislgeschehen hatte er aber kaum eine Beziehung. „Ich habe mich mit den Leuten dort nicht verstanden. Meine Auffassung von Öffentlichkeitsarbeit war eine völlig andere.“

„Ein Beweis für die Meinungsvielfalt der dort angesiedelten Gruppen“, meinen die Ex-Barkeeper dazu.

Um öffentliche Diskussionen anzuheizen und wichtige Themen aufzugreifen, gab es ständig Gesprächsrunden oder Podiumsveranstaltungen.

Gäste: Blecha, Cap, Zilk

Eines der Highlights war zweifellos der Besuch des Wiener Bürgermeisters Helmut Zilk zu der heiß umstrittenen Materie: „Kulturpolitik der Gemeinde Wien zwischen Förderung und Vereinnahmung“. „Während der Zilk da vorne seinen Reim aufsagte, haben sich die Kräftigsten von uns bemüht, die radikaleren Diskussionsteilnehmer der letzten Reihen davon abzuhalten, unseren Stadtvater mit Wasserbomben zu beschmeißen“, erinnert sich jemand noch ‚ganz genau‘ an den turbulenten Abend, an dem mehr als 120 Unterhaltungslustige versammelt waren.

Der Stadtvater erinnert sich heute nicht mehr so recht an jenes Ereignis: „Wissen’s, i war in den letzten Jahren auf so vielen Veranstaltungen ...“

Ebenso originell wie aufsehenerregend war auch der Abend mit dem Palmers-Entführer Reinhard Pitsch, der während eines mehrstündigen Hafturlaubes unter polizeilicher Aufsicht im Rotstilzchen auf das Podium kletterte und über die Haftbedingungen in österreichischen Gefängnissen wetterte. „Das war zur gleichen Zeit, als die RAF in der Bundesrepublik im Hungerstreik war“, ordnet ein Beislaktivist den Auftritt zeitlich und thematisch ein.

Auch Parteigrößen wie Karl Blecha und Josef Cap gaben sich zu ausgesuchten Fragenkomplexen ein Stelldichein. „Der Blecha war da noch Zentralsekretär, das war’n überhaupt noch andere Zeiten, heute ist so ein Politikerbesuch in einem autonomen Zentrum doch gar nicht mehr möglich“, berichtet die Rotstilzchen-Runde.

Geldsorgen

Solch eine illustre Gästeschar, die die abendlichen Umsätze in die Höhe schnellen ließ, war allerdings eher die Ausnahme. Immer wieder drückten finanzielle Probleme die Stimmung. Ausserdem war die Arbeit im Lokal unentgeltlich, da durch den Beislbetrieb gerade die Selbstkosten gedeckt werden konnten. So traten auch Ermüdungserscheinungen im Kollektiv auf, die dazu führten, daß im Jahr 1986 das „Forum Alternativ“ ausstieg und eine Gruppe autonomer Hausbesetzer das Erbe übernahm.

Mit der neuen Besetzung veränderten sich auch dementsprechend die politischen Inhalte und Ziele. Während die Themenschwerpunkte früher die „Dritte Welt“-Problematik oder den Ökologiekomplex betrafen, konzentrierte man sich nun auf Belange der Wiener Autonomenszene, wie beispielsweise Wehrdienstverweigerung, Wohnungsnot oder Hausbesetzungen.

Damit änderte sich ebenfalls das Publikum; so bevölkerten Punks oder Vertreter anderer Randgruppen, die in diversen Lokalen rausgeschmissen wurden, zunehmend das Rotstilzchen.

„Es war uns wichtig, gerade auch für solche Leute ein Treffpunkt zu sein“, erklärt einer der Gruppe.

Mit den Anwohnern hätte es eigentlich nie Probleme gegeben, trotzdem wurde kurz nach dem Wechsel des Kollektivs bereits die erste Kündigung ausgestellt. „Mit der Begründung, daß die Hausbewohner verschreckt wären, weil es durch unsere politische Tätigkeit immer wieder zu Polizeieinsätzen gekommen sei“, erklärt ein Mitglied der jetzigen Crew. Die Rechtsstreitereien um die Kündigung — später dann um die Räumung — zogen sich durch die letzten Jahre des Rotstilzchens wie ein endloser roter Faden.

Kündigung, Räumung

Obwohl das autome Beislkollektiv sich ständig mit Rechtsfragen herumzuschlagen hatte, tat sich daneben doch einiges an Aktivitäten. Unter anderem wurde die Idee, eine Art Zentralorgan für die autonome Linke zu schaffen — mittlerweile bekannt als das „TATblatt“ — in irgendeiner Nacht in den Köpfen irgendwelcher Leute im Rotstilzchen geboren.

Das ständige hin und her um Kündigung und Räumung ist nun vorbei. „Seit Anfang Juni ist die Sache rechtskräftig, ich glaube nicht, daß wir noch eine Chance haben“, lautet eine Einschätzung.

Andere wollen aber noch lange nicht aufgeben: „Wir werden hier sicher nicht kampflos rausgehen, das ist ganz klar!“

Der Verlust wird schmerzlich sein, denn: „Es gibt in Wien nichts Vergleichbares.“

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